Eine Reihe von Glühbirnen, nur eine leuchtet
Sunny_Smile – stock.adobe.com
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Serendipität

Wie man dem Zufall auf die Sprünge hilft

Die Entdeckungen von Penizillin und Röntgenstrahlung gelten als „glückliche Zufälle“ der Wissenschaft. Diese Zufälle sind aber nicht bloß Zufall. Es braucht auch Fleiß, Forschergeist und Freiraum für „kontrollierte Schlampereien“, damit Serendipität – ein glücklicher Zufall – entsteht.

Als Alexander Fleming im September 1928 aus seinem Urlaub zurückkehrt, findet er verschimmelte Bakterienkulturen in seinem Labor. Auf flachen Glasschalen hatte er vor seinem Urlaub Staphylokokken angezüchtet. Den Großteil dieser Petrischalen hatte er entsorgt, einige jedoch vergessen. Und am Nährboden dieser waren Schimmelpilze gewachsen. An sich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich dabei war jedoch, dass es rings um den blau-grünen Schimmel keine Staphylokokken mehr gab. Der Schimmelpilz der Gattung Penicillium notatum hatte die Bakterien getötet. 1945 bekam Alexander Fleming für die Entdeckung des Penizillins den Nobelpreis für Medizin verliehen.

Glückliche Zufallsfunde

Nicht nur die Entdeckung des Penizillins, auch die „Erfindung“ der Post-its oder die unabsichtliche Entwicklung von Viagra verdanken wir dem „glücklichen Zufall“. Forscherinnen und Forscher haben etwas gefunden, nach dem sie eigentlich gar nicht gesucht hatten. In der Wissenschaft wird diese „glückliche Fügung“ auch als Serendipität bezeichnet. Ein Begriff, der erstmals im 18. Jahrhundert vom britischen Autor Horace Walpole verwendet wird. Er entlehnt ihn dem persischen Märchen: „Die drei Prinzen von Serendip“. Darin machen drei Königskinder auf Grund ihrer ausgeprägten Beobachtungsgabe und ihres Scharfsinns ständig Entdeckungen, und zwar zu Themen, mit denen sie sich eigentlich gar nicht befasst hatten.

Alexander Fleming  1952 in einem Labor des Wright Fleming Instituts in London
ASSOCIATED PRESS
Alexander Fleming 1952 in einem Labor des Wright Fleming Instituts in London

In die Wissenschaftstheorie eingeführt hat den Begriff der Soziologe Robert Merton. Laut ihm ist Serendipität der Forschung eingeschrieben. Es handle sich dabei um die recht häufig gemachte Erfahrung, dass ein unerwarteter, anomaler und strategischer Sachverhalt zum Anlass für die Entwicklung einer neuen Theorie oder für die Erweiterung einer bestehenden Theorie wird.

Zufall und Können

Damit das gelingen kann, braucht es nicht nur den Zufall, sondern auch die Fähigkeit zu erkennen, dass dieser Zufall für die Arbeit von Bedeutung ist, erklärt die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. „Ich muss erkennen, da ist etwas und das ist wichtig, dem muss ich nachgehen.“ Das gelingt nicht allen Forscherinnen und Forschern gleich gut, wie das Beispiel der Hochtemperatursupraleitung zeigt, deren Entdeckung 1987 mit dem Nobelpreis für Physik geehrt wurde. Neben Alexander Müller und Georg Bednorz hätte auch ein französisches Team an denselben Problemstellungen gearbeitet. „Die hatten vor sich eine Probe mit ähnlichen Ingredienzien und haben die Bedeutung nicht erkannt. Und Müller und Bednorz haben gesagt: Da ist doch etwas und haben nicht nachgelassen“, erzählt Nowotny.

Man muss ein unerwartetes Ereignis, einen Zufall, in der Forschung auch zu nutzen wissen. Wenn man Grundlagenforschung betreibt, begebe man sich auf ein Territorium der Ungewissheit, erklärt die emeritierte Professorin der ETH Zürich und frühere Präsidentin des europäischen Forschungsrates Helga Nowotny. Der Zufall sei auf diesem Territorium ein guter Verbündeter. Sich auf ihn verlassen, sollte man aber nicht. „Man kann nicht nur hineingehen und sagen: So, hier bin ich – glücklicher Zufall, finde mich!“

Große und kleine Serendipitätsmomente

„Wenn man sich auf das Konzept der Serendipität einlässt, dann begegnet sie einem immer wieder“, sagt der Physiker Robert Koeppe, der am Institut für Experimentalphysik der Johannes Keppler Universität in Linz forscht. Serendipitätsmomente ließen sich erst im Nachhinein als solche erkennen. Erst im Rückblick kann der soeben durchgeführte, alltägliche Forschungsschritt zur entscheidenden Entdeckung werden. Dabei muss Serendipität nicht immer die große bahnbrechende Entdeckung sein, sondern kann auch einfach einen kleinen Wendepunkt darstellen.

Mit Pilzmyzel verwachsenes Holz
Robert Koeppe
Mit Pilzmyzel verwachsenes Holz

Robert Koeppe beispielsweise war im Wald unterwegs, als er dort ein von Pilzen zersetzten Baumstamm entdeckte. Verwächst Pilzmyzel mit Holz, entsteht ein neues Material – und zwar eines mit vielversprechenden Eigenschaften, mit dem der Physiker seither experimentiert. „Man muss einfach darauf vertrauen, dass die Sachen, die einem passieren, eben auch etwas Gutes sein können“, meint er. Neben Vertrauen brauche man aber auch die Gelassenheit, Dinge, die nicht zünden, wieder bleiben zu lassen. Und man brauche Offenheit. Eine Offenheit, die sich oft im Anschluss an ein gescheitertes Projekt ergibt. „Dann eröffnet sich überhaupt der Raum, etwas Neues anzufangen. Deswegen ist es wichtig, das auch in Kauf zu nehmen.“

Die soziale Seite der Serendipität

Serendipität geht über das rein Kognitive hinaus. Auch die richtige Zeit und der richtige Ort spiele eine Rolle, wenn etwa soziale Verbindungen zu neuen Entdeckungen führen. Auf die Idee, dass es sich bei der Chemikalie, die er isoliert und als Hexuronsäure bezeichnet hat, um Vitamin C handelt, brachte Albert Szent-Györgyi sein Doktorand Joseph Svirbely. Der hatte zuvor im Labor des Biochemikers Charles King gearbeitet, der sich mit Skorbut beschäftigte; eine Erkrankung, die bei dauernder Unterversorgung mit Vitamin C auftritt. Der Doktorand verband die beiden unabhängigen Forschungsvorhaben miteinander.

Vier Arten der Serendipität

Seit 2018 forscht Ohid Yaqub an der University of Sussex im Rahmen eines ERC-Projekts zur Messung von Serendipität und ihrer Rolle in der Forschungspolitik. Ausgehend von Robert Mertons Archiv sammelte Yaqub hunderte von historischen Beispielen, um Mechanismen ausfindig zu machen, die zu Serendipität führen. Die Zusammenarbeit in Netzwerken ist laut ihm ein solcher Mechanismus, ebenso wie scharfsinnige Beobachtungen, Irrtümer und „kontrollierte Schlampereien“, die entstehen, wenn die Versuchsplanung locker genug ist, um etwas Unerwartetes zu entdecken, gleichzeitig aber soweit kontrolliert, dass man die Quelle der Entdeckung ausfindig machen kann.

Insgesamt unterscheidet der Wissenschaftsforscher vier Grundtypen von Serendipität. Der erste Typ liegt vor, wenn Forschung in einem Bereich zu einer zufälligen Entdeckung in einem anderen führt. Das geschah beispielsweise 1943, als die Untersuchung zu einer Senfgasexplosion ergab, dass die Anzahl weißer Blutkörperchen bei den Betroffenen abnahm und die Idee zur Chemotherapie geboren wurde. Eine zweite Art von Serendipität existiert, wenn eine Entdeckung auf einen unerwarteten Weg gemacht wurde, wie das etwa bei der zufälligen Entdeckung der Vulkanisierung durch Charles Goodyear passierte. Unabsichtlich tropfte ein Teil einer Kautschuk-Schwefel Mischung auf die heiße Herdplatte und weicher, elastischer Gummi entstand.

Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny
APA/HERBERT PFARRHOFER
Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny

Manchmal entdeckt man beim Herumexperimentieren etwas, wie das etwa bei der Entdeckung der Röntgenstrahlung der Fall war. Auch das ist laut Yaqub eine eigene Form der Serendipität. Und dann gebe es noch Entdeckungen, bei denen sich erst Jahre später herausstellt, dass eine gute Erfindung vorliegt. Beispielsweise entdeckte der Chemiker Édouard Bénédictus bereits Anfang des 20. Jahrhunderts einen Weg, wie man Sicherheitsglas anfertigen könnte. Konkrete Anwendungsfälle gab es erst später, als Soldaten im Ersten Weltkrieg bruchsichere Augengläser für ihre Gasmasken benötigten.

Förderliche Rahmenbedingungen

Man kann Serendipität in Wissenschaft und Forschung nicht erzwingen, jedoch kann man sie fördern, indem man Rahmenbedingungen schafft, die den Freiraum geben, einer unerwarteten Entdeckung nachzugehen. Rahmenbedingungen, die in der Forschung nicht selbstverständlich sind. Meist sind Zeit und Ressourcen begrenzt. Und bereits im Forschungsförderungsantrag müssen Ergebnis und Wirkung definiert werden.

Einengung sei in der Forschung zwar etwas Positives, betont die Wissenschaftsforscherin Helga Nowotny. Gleichzeitig brauchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber auch die Möglichkeit, ihre Pläne im Laufe des Forschungsprozesses abändern zu können. Strikte Pläne und Serendipität schließen einander aus, ist auch Robert Koeppe überzeugt. Wobei das Gegenteil, komplette Freiheit, auch nicht unbedingt förderlich sei. Knappe Ressourcen könnten in gewisser Weise auch Kreativität fördern, da sie zu einem kreativen Umgang mit diesen Hürden zwingen und eine Herausforderung darstellen. Eine Herausforderung, die – wohl dosiert – vielleicht auch Neues anregen kann.