Eine Mutter mit zwei Kindern in den Armen blickt auf ein Tablet
Alexander Dummer/Unsplash
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Kleinkinder

Guter Wortschatz trotz Lockdowns

Lockdowns verzögern die Entwicklung von Babys und Kleinkindern: Diesem verbreiteten Urteil widersprechen zwei neue Studien. Zumindest die Entwicklung des Wortschatzes der Kinder sei durch die soziale Isolation nicht behindert worden – die Ursachen dafür sind freilich unklar.

Der tägliche Spaziergang um den Block, ab und zu ein Ausflug in die Natur und den Rest der Zeit mit der Kernfamilie zuhause: So sah für viele Babys und Kleinkinder der erste Lockdown im Frühjahr vor knapp zwei Jahren aus. Betreuungseinrichtungen waren geschlossen, Kontakt zu Gleichaltrigen hatten die wenigsten, und die Großeltern trafen die meisten – wenn überhaupt – nur kurz im Freien mit mindestens zwei Metern Abstand.

Ein internationales Forschungsteam untersuchte in zwei Studien, welche Auswirkungen diese Maßnahmen auf die frühkindliche Entwicklungsphase hatten. Die erste Studie, die von der Universität Oslo geleitet wurde, beschäftigt sich mit den Folgen des Lockdowns für die Sprachentwicklung und damit, welchen Einfluss die Eltern dabei hatten. In die Studie flossen Daten zu 1.742 Kindern im Alter von acht Monaten bis drei Jahren ein. Die Ergebnisse wurden nun im Fachmagazin „Language Development Research“ veröffentlicht.

Die zweite Studie, geleitet von der Universität Göttingen, dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im niederländischen Nijmegen und der Fachhochschule Westschweiz, sah sich die Zunahme der Bildschirmzeiten während des Lockdowns an und untersuchte deren Auswirkungen auf die Sprachentwicklung. Die Ergebnisse wurden im Fachmagazin „Scientific Reports“ veröffentlicht.

Wortschatz wuchs während Lockdowns

Die Studien zeigen, dass Babys und Kleinkinder, denen während des Lockdowns häufiger vorgelesen wurde, mehr neue Wörter erwarben als jene, denen seltener vorgelesen wurde. Und Kinder, die mehr Zeit vor diversen Bildschirmen verbrachten, erwarben weniger Wörter als jene mit weniger Bildschirmzeit. Je länger der Lockdown andauerte, umso mehr Zeit verbrachten die Kinder vor dem Bildschirm. Kinder mit mehr Bildschirmzeit hatten zudem auch Eltern, die selbst mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringen. Als weiterer Faktor für eine erhöhte Bildschirmzeit wurde ein geringeres Bildungsniveau der Eltern festgestellt.

Aber auch insgesamt durften sich Babys und Kleinkinder während des Lockdowns öfter von Angeboten am Bildschirm unterhalten lassen als davor. Dennoch: Im Schnitt beherrschten sie nach dem Lockdown mehr Wörter, als für ihr Alter zu erwarten wäre. Dies sei möglicherweise auf andere Aktivitäten zurückzuführen, die Eltern mit ihren Kindern während des Lockdowns unternahmen, so das Forschungsteam.

„Besondere Umstände für Familien“

Die Auswirkungen, die Aktivitäten von Eltern und Kind auf den Wortschatz des Kindes haben, benennen zu können, sei eine „wichtige Erkenntnis“, sagt der Psychologe Julien Mayor von der Universität Oslo – „besonders in Anbetracht dessen, dass die Studie nur Veränderungen im Wortschatz über einen durchschnittlichen Zeitraum von etwas mehr als einem Monat bewerten konnte“.

Kind, Kleinkind, Bildschirm, Notebook, Computer
Child engaging in passive screen exposure, Studie Universität Göttingen
Julien Mayor

Dass die Bildschirmzeit insgesamt stieg, führen die Forscherinnen und Forscher auf die besonderen Umstände zurück, in denen sich Familien während des Lockdowns befanden: die Schließung von Kindergärten, anderen Betreuungseinrichtungen und Spielgruppen. „Viele Eltern befanden sich in der vollkommen neuen Situation, ihre Kleinkinder den ganzen Tag zuhause zu beaufsichtigen, zu unterhalten und sich um sie zu kümmern. Dabei mussten sie außerdem oft noch ihrer Erwerbsarbeit nachgehen, etwa an Videokonferenzen teilnehmen, und den Haushalt führen. Und das alles mit einem kleinen Kind, das Unterhaltung braucht", sagt Nivedita Mani, Psychologin an der Universität Göttingen.

Vieldiskutiertes Thema Kinder und Bildschirmzeit

Für die Studien füllten Eltern aus 13 Ländern – Österreich war nicht darunter – kurz nach Beginn des Lockdowns Anfang März 2020 einen Onlinefragebogen aus. Dieser enthielt Fragen zum Alter des Kindes, zum Umgang mit verschiedenen Sprachen, zur Anzahl der Geschwister und zur Entwicklung des Wortschatzes. Am Ende des Lockdowns wurden die Eltern erneut kontaktiert und dazu befragt, wie sie ihre Kinder während der Zeit zuhause beschäftigten und was sie mit ihnen unternahmen.

Ein Teil der Fragen beschäftigte sich auch mit der Bildschirmzeit: Wie lange durfte das Kind vor und während des Lockdowns Serien oder andere Angebote im Fernsehen, am Tablet, Notebook oder Mobiltelefon konsumieren? Und: Auch die Eltern wurden gefragt, wie viel Zeit sie selbst vor dem Bildschirm verbringen und wie sie zum vieldiskutierten Thema Kinder und Bildschirmzeit stehen. Sie wurden zudem gebeten, eine standardisierte Vokabelcheckliste auszufüllen. Diese gab den Forscherinnen und Forschern Hinweise darauf, wie viele Wörter das Kind zu Beginn und zum Ende des Lockdowns passiv verstand und wie viele es aktiv verwendete. So konnte berechnet werden, ob sich der Wortschatz während des Lockdowns erweiterte.

„Beruhigende“ Ergebnisse

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich die relativ kurz Dauer der Isolation nicht nachteilig auf den Spracherwerb kleiner Kinder ausgewirkt habe, sagt die Psychologin Natalia Kartushina von der Universität Oslo. Dennoch dürfe man nicht davon ausgehen, dass dies auch während „normaler“ Zeiten oder in länger andauernden Lockdowns gültig sei.

Dass auch kleine Kinder – die im Gegensatz zu älteren keine Distance-Learning-Einheiten vor dem Bildschirm absolvierten – während des Lockdowns längere Bildschirmzeiten hatten, bezeichnen die Forscherinnen und Forschern aber als durchaus sinnvoll. Als „beruhigend“ werten sie zudem das Ergebnis, dass die Babys und Kleinkinder im Lockdown ab März 2020 sogar vergleichsweise mehr Wörter erwarben. „Entweder achteten die Eltern in dieser Zeit besonders auf die Entwicklung ihres Kindes – oder die Kinder profitierten im Spracherwerb von der intensiven Interaktion mit ihren Eltern.“