Anti-Corona-Demonstrant in den Niederlanden
AFP – ROBIN VAN LONKHUIJSEN
AFP – ROBIN VAN LONKHUIJSEN
Gewaltbereitschaft

Wiederholt sich Geschichte der Zwischenkriegszeit?

15 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind in Zeiten der Pandemie Gewalt auf Demonstrationen nicht abgeneigt. Das zeigen neue Daten des Austrian Corona Panel Project. Ob die Gewaltbereitschaft heute mit jener der Zwischenkriegszeit zu vergleichen ist, lotet der Historiker Oliver Rathkolb in einem Gastbeitrag aus.

In den letzten Jahren wird immer wieder an die Gewaltbereitschaft in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erinnert: Sie hat in Deutschland, Italien und anderen Nachkriegsstaaten wie auch in Österreich die junge parlamentarische Demokratie unterwandert und letztlich zerstört. Erst vor kurzem wurde die Ermordung des Reichsaußenministers Walther Rathenau in Berlin in den Medien thematisiert, Rathenau wurde vor bald 100 Jahren, am 24. Juni 1922, von Mitgliedern der rechtsradikalen „Organisation Consul“ getötet wurde – weil er Demokrat, jüdischer Herkunft und Großindustrieller war.

Zeithistoriker Oliver Rathkolb (Uni Wien)
APA/HELMUT FOHRINGER

Über den Autor

Oliver Rathkolb ist Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Wien

Im Jahr zuvor war der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger von dieser Gruppe erschossen worden, die Liste der politischen Morde in der Weimarer Republik ließe sich lange fortschreiben. In Ungarn starben allein 1919/20 1.500 Menschen. Für Österreich hat Gerhard Botz rund 860 Todesopfer in der Zwischenkriegszeit vor dem „Anschluss“ 1938 ermittelt. Viele deutsche Medien kommentieren die politischen Morde von rechtsradikalen Fanatikern in der Gegenwart immer wieder damit, dass die Gewalt der Zwischenkriegszeit zurückkehrt und die Demokratie wieder in Gefahr sei.

Seit 2018 zeigt der Bertelsmann-Index, dass „Autokraten auf dem Vormarsch sind, und gerade vor wenigen Tagen schlägt der Transformationsindex 2022 der Bertelsmann Stiftung Alarm, dass unter 137 Entwicklungs- und Schwellenstaaten nur mehr 67 als Demokratien und 70 als Autokratien einzuordnen sind. Gleichzeitig steigt die wirtschaftliche Benachteiligung.

Zunehmende Gewaltbereitschaft in den USA

Auch in den USA mehren sich die Schlagzeilen zu politischen Morden mit dem Tenor „Growing Danger of Political Violence Threatens to Destabilize America“. Zumindest 25 Menschen wurden bei politischen Protesten und Konfrontationen 2020 in den USA getötet. Im Jahr zuvor war die Zahl der Todesopfer mit 42 Menschen noch deutlich höher. 90 Prozent der Morde waren von Rechtsradikalen verübt worden, islamistischer Terror ging hingegen deutlich zurück. 2015 und 2016 war der Höhepunkt der Gewalteskalationsspirale mit 70 bzw. 76 politischen Morden erreicht. 2018 wurden 53 Menschen umgebracht, alleine 28 bei den Attentaten gegen die Pittsburgh Synagoge (elf Opfer) und die Parkland High School (17 Opfer).

Seit 2017 sammeln Sozialwissenschaftler für die USA aus Meinungsumfragen über die Bereitschaft in der Gesellschaft, politische Gewalt zu akzeptieren. Sowohl zwölf Prozent der Anhänger der Republikanischen Partei als auch elf Prozent der Demokratischen Partei stimmten beispielsweise 2020 der Frage zu, dass es zumindest „ein bisschen“ gerechtfertigt sei, politische Führer der Gegner zu töten, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Ein Jahr später sahen ein Fünftel der Republikaner und 13 Prozent der Demokraten – insgesamt 65 Millionen Menschen – unmittelbare Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Ziele für gerechtfertigt.

Wenige Daten aus Österreich

Und wie sieht es in Österreich aus? Während es in den USA engagierte NGOs gibt, die das Gewaltpotenzial in den USA immer wieder mit Fakten und Daten thematisieren und auch konkrete Lösungsvorschläge zur steigenden Gewaltbereitschaft entwickeln und umsetzen, fehlt auf der „Insel der Seligen“ etwas Vergleichbares. Von Zeit zu Zeit schaffen es die Ergebnisse von Umfragen zum autoritären antidemokratischen Potenzial und der Sehnsucht nach einem Führer ohne Wahlen und Parlament in die Medien, nachhaltigen politischen Eindruck hinterlassen sie aber selten. Erst in den letzten Jahren ist die bewusste Auseinandersetzung mit Antisemitismus auch auf Regierungsebene angekommen, was die plötzliche Wiedereinführung des offiziellen jährlichen Rechtsextremismus-Berichts zur Folge hat. Es ist noch nicht lange her, da wurde dieser von der ÖVP noch vehement abgelehnt.

15 Prozent auf Corona-Demos Gewalt nicht abgeneigt

Aber wie schaut die „österreichische Seele“ tatsächlich aus? Auf meine Anregung hin hat das Austrian Corona Panel Project (ACPP) der Universität Wien am 28. Jänner 2022 nicht nur die schon traditionellen Fragen zum autoritären Potenzial wieder gestellt, sondern erstmals direkt die Gewaltbereitschaft bei den Corona-Demonstrationen angesprochen: „Ich unterstütze gewaltsame Demonstrationen.“

Und das Ergebnis der Antworten auf diese Feststellung zeigt einen kleinen, aber klar gewaltbereiten Kern bei den Demonstranten von 15 Prozent, wobei drei Prozent der Befragten überhaupt „voll und ganz“ dieser Aussage zustimmen, vier Prozent meinen, dass dies „eher zutrifft“ und acht Prozent antworten mit „teils-teils“, sind also Gewalt nicht ganz abgeneigt. Demokratiepolitisch beruhigend hingegen sind die 78 Prozent der Befragten, die klar dagegen auftreten, weitere sechs Prozent neigen eher nicht zu Gewalt. Nur zwei Prozent haben hier keine Meinung!

Grafik zu Rathkolb-Beitrag
Quelle: ACPP und eigene Umfragen. Auswertung: Petra Ziegler, WIAB, Wien

Aber wie die Geschichte der 1920er und 1930er eindeutig lehrt, es sind die kleinen Gruppen und straff organisierten Netzwerke, die letztlich im Falle des Staats- und Gesellschaftsversagens durch Gewaltaktionen die politische Entwicklung vor sich hertreiben.

Diese Grafik fasst die Ergebnisse von drei Umfragen zusammen – jene des bereits erwähnten des Corona Panels vom Jänner 2022, eine weitere vom Mai 2020 sowie eine internationale Online-Umfrage, die ich im November/Dezember 2019 mit einer Forschungsgruppe in sieben europäischen Ländern (Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Polen, Tschechische Republik und Ungarn) durchführen ließ.

Grafik zu Rathkolb-Beitrag
Quelle: ACPP und eigene Umfragen. Auswertung: Petra Ziegler, WIAB, Wien

Einfluss von Corona auf die Antworten

In der harten Frage „Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“ gab es 2022 einen Rückgang bei den teils-teils-Antworten von 25 auf 21 Prozent. Auch die Sehnsucht nach „starken Führungspersönlichkeiten“ ist leicht rückläufig (35 Prozent grundsätzliche Zustimmung), was wohl eine Folge der Turbulenzen um den Rücktritt von ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz ist. Die grundsätzliche Akzeptanz der Demokratie als beste Regierungsform ist zwischen 2021 und 2022 mit 72 bzw. 71 Prozent grundsätzlicher Bejahung und Zustimmung sowie minimaler totaler Ablehnung von sechs Prozent relativ stabil geblieben.

Etwas gestiegen ist die Forderung nach „Berücksichtigung unterschiedlicher Gruppen“ in einer Demokratie, was wiederum auf die Corona- und Impfdebatte zurückzuführen sein könnte (über 70 Prozent grundsätzliche Zustimmung). Stetig niedrig ist seit 2019 die Bereitschaft der österreichischen Bevölkerung, „auf Minderheiten Rücksicht zu nehmen“. Selbstkritisch auch an meine eigene Disziplin gerichtet, sollten sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler künftig mehr mit konkreten Lösungsmodellen und Strategien auseinandersetzen, um autoritäre Tendenzen und Einstellungen sowie die dokumentierte Gewaltbereitschaft zurückzubauen und mittelfristig deutlich zu reduzieren.

Eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen am Samstag, 04. Dezember 2021 in Wien
APA/FLORIAN WIESER
Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen am Samstag, 4. Dezember 2021 in Wien

Beispiel: Diskursprojekt in chinesischer Textilfabrik

Internationale Beispiele gibt es bereits – so in einem Großprojekt in einem Land, wo das nicht vermutet werden würde, in China, durchgeführt durch eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern von der Princeton University in den USA. Die beiden US-Psychologinnen Sherry J. Wu und Elizabeth L. Palluck entwickelten zwischen 2016 und 2019 ein höchst spannendes Projekt in einer großen multinationalen Textilfabrik in Suzhou, einem der größten globalen Zentren der Nähindustrie.

Insgesamt arbeiten dort 1.963 Personen in 77 Nähteams, davon 94 Prozent Frauen mit einem Durchschnittsalter von 32,5 Jahren in der Alterskohorte von 18 bis 53 Jahren. 1.752 Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen an der Untersuchung teil, aber nur ein zufällig ausgewählter Personenkreis diskutierte sieben Wochen lang je 20 Minuten pro Tag in Arbeitsgruppen. In diesen morgendlichen Treffen traten die üblichen Aufsichtspersonen zurück und mit der Unterstützung eingeschulter Forschungsassistentinnen einer Universität vor Ort wurde interaktiv über Probleme, Ideen und Ziele in der Arbeit diskutiert.

Die übrigen Gruppen diskutieren mit den jeweiligen Vorgesetzten über den Status quo in dem Unternehmen. In den interaktiven Gruppen zeigte sich nach Ende dieser regelmäßigen Diskussionsphase bei diesem Sample an Arbeiterinnen und Arbeitern eine messbar größere Bereitschaft, weniger stark autoritäre Rahmenbedingungen zu akzeptieren und sich mehr für Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu engagieren.

Diese Ergebnisse wurden übrigens von einer „Gegenprobe“ an einer US- Elite-Universität – ich vermute es handelt sich um die Princeton University – bestätigt. Dort wurden nach derselben Vorgangsweise wie in Suzhou 172 administrative Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Universitätsverwaltung in 32 Arbeitsgruppen zusammengefasst, und zu gleichen Teilen mit unterschiedlichen Diskussionsformen konfrontiert.

Untersuchungsmethoden von NS-Vertriebenen

Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, ist es fast beängstigend, dass wir heute wieder auf jene Methoden zurückgreifen, die noch während des Zweiten Weltkrieges angewandt wurden, um den Nationalsozialismus und seine Wirkungsmacht zu erklären. So beruhten die genannten Projekte in China und den USA auf den Studien des renommierten deutschen Sozialpsychologen Kurt Lewin, die zwischen 1939 und 1947 in der Harwood Fabrik durchgeführt wurden. Lewin wurde wie zahlreiche andere exzellente Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den Nationalsozialisten wegen ihrer jüdischen Herkunft vertrieben und kehrte nach einer Gastprofessur an der Stanford University nicht mehr an die Friedrich-Wilhelm-Universität in Berlin zurück.

Auch die frühen Autoritarismus-Studien stammen von der österreichischen Exilantin Else Frenkel-Brunswik, die unter der Leitung von Theodor W. Adorno an der University of California, Berkeley gemeinsam mit den US-Psychologen Nevitt Sanford und Daniel Levinson die Autoritarismus-Skala auf der Basis der Erfahrungen mit der Machtergreifung des Nationalsozialismus entwickelt hat. Damit sollte ein Seismograf für die US-Gesellschaft entwickelt werden, um eine vergleichbare Entwicklung wie in Deutschland nach 1933 rechtzeitig vorherzusagen und dann verhindern zu können. Durch das Erfassen „präfaschistischer Einstellungen“ sollten antidemokratische Trends erfasst werden.

Lösungsansatz: Politische Bildung an den Schulen

Gerade in einem Land wie Österreich, das über eine nach wie vor funktionierende Sozialpartnerschaft verfügt, wäre eine Struktur vorhanden, die durchaus einen wichtigen Beitrag leisten könnte, um die immer mehr in Richtung aggressive Spaltung und Lagerbildung treibende Gesellschaft wieder näher zusammenbringen. Es genügt dabei nicht, Werbeeinschaltungen zu finanzieren oder Sonntagsreden zu schwingen.

Auch die permanente Forderung nach mehr Bildung als Vorbeugemaßnahme gegen autoritäre Entwicklungen versickert im Schulalltag. Initiativen, Politische Bildung als Pflichtfach endlich an allen Schultypen zu verankern, sehe ich leider nicht. Hingegen wird für ein neues Fach „Wirtschaft“ öffentlich Stimmung gemacht.

Zuletzt wurde in Österreich in allen gesellschaftlichen Schichten intensiv vor 1995 über ein zentrales staatspolitisches Thema diskutiert – über Nachteile und Vorteile eines Beitritts zur Europäischen Union. Warum sollte es nicht möglich sein, heute wieder eine vergleichbare nachhaltige Initiative zu setzen, um Vor- und Nachteile der parlamentarischen Demokratie intensiver auszuleuchten und miteinander zu diskutieren? Damit werden zwar politische Parteien keine Wahlen gewinnen, aber unsere politische Kultur könnte gestärkt und wieder mit positiven Inhalten gefüllt werden. Demokratie ist nicht selbstverständlich, sondern muss von Generation zu Generation neu verhandelt und erarbeitet werden.