Der Schriftsteller Robert Musil (undatiertes Archivbild)
dpa/dpaweb/Ullstein/B0100 Ullstein
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Robert Musil

„Nichts anderes als Dichter sein“

Robert Musil hat das utopische Projekt verfolgt, ein hundertprozentiges Dasein als Dichter zu führen. Zu Lebzeiten wenig anerkannt, zählt er zu den bedeutendsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Vor 80 Jahren, am 15. April 1942, ist Musil in Genf gestorben.

Der Dichter Robert Musil verstand sich als Seismograf, der die intellektuellen Erschütterungen seiner Zeit wahrnahm. Für ihn stellte die Dichtung das Gegenmodell zu eindimensionalen Ideologien dar, die mit ihren vorfabrizierten Schablonen die Lebenswelt der Menschen bestimmen.

Der Dichter sei prädestiniert, betonte Musil, dank seiner „Gabe der Beobachtung und des In-Frage-Stellens“ dogmatische moralische Regeln zu relativieren. Musil lehnte es ab, den Menschen mit einer bestimmten Definition zu belegen. Vielmehr folgte der Schriftsteller dem Vorschlag von Friedrich Nietzsche, die Bestimmung des Menschen offen zu lassen und ihn als „das nicht festgestellte Tier“ zu betrachten.

Gegen philosophische Allmachtsphantasien

Die Reflexionen Musils kreisten um die zentrale Frage, wie sich ein geistiger Mensch angesichts der Unbestimmtheit seines Wesens zur Realität verhalten sollte. Ein Studium der Philosophie, das er in Berlin absolvierte, sollte ihm mehr Klarheit verschaffen. Musil zeigte wenig Interesse an den Philosophen des Deutschen Idealismus, deren Denkgebäude er als Allmachtsphantasien von Stubengelehrten betrachtete. „Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich die Welt in der Weise unterwerfen, dass sie sie in ein System sperren.“

Besonders interessierte sich Musil für die Schriften des österreichischen Physikers und Wissenschaftstheoretikers Ernst Mach, der von 1838 bis 1916 lebte. In seinem philosophischen Hauptwerk „Die Analyse der Empfindungen“ vertrat er einen radikalen Empirismus, der sich gegen metaphysische Konstrukte wie die Substanz oder das „Ding an sich“ richtete. Der Generalangriff betraf ebenfalls das menschliche Ich, das sich bloß aus verschiedenen Empfindungen zusammensetze. „Dahinter stehe nichts“, notierte Mach.

„Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“

Während seiner technischen und philosophischen Studien begann Musil mit der Arbeit an dem Roman „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, den er 1906 veröffentlichte. Es handelt sich dabei um eine vielschichtige Pubertätsgeschichte, die bei dem Protagonisten Empfindungen und Erlebnissen auslösen, die ihn zutiefst beunruhigen. Sie beziehen sich auf Grenzüberschreitungen, die in den Bereichen der Sexualität und der seelischen und körperlichen Gewalt stattfinden. „Diese andere dumpfe, brandende, leidenschaftliche, nackte vernichtende Welt“ verstört den Jugendlichen, der bisher nur die eindimensionale rationale Seite der Wirklichkeit kennengelernt hat.

Robert Musil in seiner Bibliothek
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Robert Musil in seiner Bibliothek

Musils Erstlingsroman erzielte beim Publikum und bei der Kritik einen großen Erfolg, den er zu Lebzeiten nicht mehr wiederholen konnte. Das positive Echo trug zu dem Entschluss des Autors bei, auf die sich später bietende akademische Karriere zu verzichten und „nichts anderes als Dichter zu sein“. In der Folge verfasste er das Theaterstück „Die Schwärmer“ und Erzählungen wie „Drei Frauen“.

„Der Mann ohne Eigenschaften“

1918 begann Musil mit der Arbeit an dem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Die Intention seines Romans beschrieb er folgendermaßen: „Unter dem Vorwand, das letzte Lebensjahr Österreichs zu beschreiben, werden die Sinnfragen der Existenz des modernen Menschen darin aufgeworfen und in einer ganz neuartigen, aber sowohl leicht ironischen wie philosophisch tiefen Weise beantwortet.“

Der Staat Kakanien, wie Musil die Österreich-Ungarische Monarchie bezeichnet, stellt die Bühne dar, auf der unterschiedliche Gestalten kontrovers über Rationalität, Ekstase, Mystik, Moral, Verbrechen und über gesellschaftspolitische Themen diskutieren. Die zentrale Gestalt des Romans ist Ulrich, das Sprachrohr von Musils philosophischen und gesellschaftspolitischen Reflexionen. Er ist ein „Mann ohne Eigenschaften“ – auf der Suche nach seiner originären Persönlichkeit, die von gesellschaftlichen Prägungen verschüttet wurde.

Destruktion des Subjekts

Deswegen beschließt Ulrich „Urlaub vom Leben“ zu nehmen und sich von den Anforderungen des bürgerlichen Lebens zu lösen. Diese Distanzierung bewirkt, dass der Protagonist die Relativität und Zufälligkeit von Komponenten erfasst, die ein Subjekt bestimmen. Somit erweist sich die Vorstellung einer kontinuierlich verlaufenden Biografie, die von den meisten Menschen als Tatsache angesehen wird, als Illusion. Zunehmend tauchen bei Ulrich auch Zweifel an der Einheit des Subjekts auf.

Ö1-Hinweis

„Nichts anderes als Dichter sein“. Zum 80. Todestag von Robert Musil: Ö1-Dimensionen, 13. April 2022, 19.05

Die Auflösung der Ichinstanz, die Ulrich existenziell erlebt, korrespondiert mit der Einsicht, dass großangelegte gesellschaftliche Projekte in der Epoche zum Scheitern verurteilt sind. Das macht die von Musil ironisch geschilderte „Parallelaktion“ deutlich, die anlässlich des kaiserlichen Thronjubiläums von unterschiedlichen Vertretern der Wirtschaft und der Bürokratie geplant wird und an der Ulrich als ehrenamtlicher Sekretär teilnimmt.

Ozeanisches Gefühl der Verschmelzung

Dabei bietet sich die Gelegenheit, die aktuelle Gesellschaftsordnung zu beobachten und zu kommentieren. Es hat sich ein politisches Establishment ohne politische Leitfiguren etabliert, in der es zu jeder Sachfrage ein „Ja oder Nein“ gibt. Das ist der Grund, warum die Parallelaktion wegen der vielfältigen Interessen der handelnden Personen nicht zustande kommt; hier fehlt – wie beim Subjekt – die zentrale Instanz, die alle Tätigkeiten reguliert.

Für Ulrich ergibt sich eine Alternative zur politischen und gesellschaftlichen Agonie, die sich in Kakanien ausgebreitet hat. Es handelt sich um „den anderen Zustand der taghellen Mystik“, in dem eine Welt ohne Schatten, ohne Dämmerung erlebt wird. Die Subjekt-Objekt-Trennung wird im ozeanischen Gefühl der Verschmelzung mit der Außenwelt aufgehoben:

„Man hat ihn den Zustand der Liebe genannt, der Güte, der Weltabgekehrtheit, der Kontemplation, des Schauens, der Annäherung an Gott, der Entrückung, der Willenlosigkeit, Man vergisst manchmal das Sehen und Hören und das Sprechen vergeht einem ganz“, schreibt Musil.

Musil und die Postmoderne

Ähnlich wie die französischen Philosophen wie Jean-Francois Lyotard oder Gilles Deleuze verstand Musil das Ich als multiples Ensemble von Eigenschaften, die lose verbunden sind und kein Zentrum aufweisen. In seinem Werk ging es ihm um den Nachweis, dass das autonome Ich – der Fetisch des Deutschen Idealismus – endgültig abgedankt habe.

Zitat Musil: „Wahrscheinlich ist die Auflösung des anthropozentrischen Verhaltens, das den Menschen so lange Zeit für den Mittelpunkt des Weltalls gehalten hat, aber nun schon seit Jahrhunderten im Schwinden ist, endlich beim Ich selbst angelangt.“

Zur Biografie

Robert Musil wurde am 6. November 1880 in Klagenfurt geboren. Er besuchte verschiedene Militärschulen, absolvierte ein Ingenieurstudium in Brünn und studierte Philosophie in Berlin. Nach seiner Promotion wurde ihm eine Assistentenstelle bei dem Philosophen Alexius Meinong in Graz angeboten, die er ablehnte. Musil entschied sich für die Existenz eines „freischwebenden Dichters“ und arbeitete von 1921 bis 1931 als Theaterkritiker und Essayist in Wien.

Nach einem Zwischenspiel in Berlin kehrte er nach Wien zurück, wo er wegen mangelnder Anerkennung seines literarischen Werks Schreibhemmungen und Depressionen ausgesetzt war. 1938 begab er sich in das Exil in die Schweiz, um seine jüdische Ehefrau zu schützen. Ohne finanzielle Rücklagen, auf die Hilfe weniger Freunde angewiesen, als Schriftsteller kaum beachtet, starb Robert Musil am 15. April 1942 in Genf an einem Gehirnschlag.