Roma-Flagge auf einer Hauswand aufgemalt
Jonathan Stutz – stock.adobe.com
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Roma-Herkunft: „Laune des Orientalismus“

Woher stammt die Gemeinschaft der Roma in Europa? Diese Frage beschäftigt die Wissenschaft Europas seit Langem. Als „Laune des Orientalismus“ beschreibt der indische Kulturwissenschaftler Avishek Ray das Unterfangen in einem Gastbeitrag.

Seit dem 18. Jahrhundert werden Roma in Europa als ‚Problem‘ untersucht. Ethnographie und Linguistik begaben sich auf die Suche nach eindeutigen Ursprüngen und Merkmalen, die Demografie übte sich oft schlicht in Ausgrenzung. Zahlreiche Orientalist_innen behaupteten unterdessen provokant, dass die (europäische) Gemeinschaft der Roma ursprünglich aus Indien komme. Diese Annahme fand wiederum ab dem späten 19. Jahrhundert Einzug in die indische ‚Gefühlsstruktur‘ – und die Gemeinschaft der Roma wurde als ‚eigene‘, also ursprünglich indisch, anerkannt.

Kulturwissenschaftler Avishek Ray
IFK

Über den Autor

Avishek Ray unterrichtet am National Institute of Technology in Silchar, Indien, und ist aktuell Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften | Kunstuniversität Linz in Wien. Die Übersetzung aus dem Englischen erfolgte durch Birgit Haberpeuntner.

Vortrag

Ray hält am 25. April 2022, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Vicissitudes of Orientalism. Re-examining the Indian Origin of the Roma“, er findet hybrid statt.

Diese Herkunftssuche, die auf einer strukturellen Sprachanalyse basierte, begann bereits im 18. Jahrhundert. Meist wurde eine (mitunter recht fadenscheinige) ‚Familienähnlichkeit‘ zwischen Romani, der Sprache der Roma, und einigen indischen Sprachen als Grundlage für die Theorie indischer Herkunft angeführt. Trotz der strukturalistischen Befangenheit solcher Sprachstudien hat das Narrativ der indischen Herkunft nicht nur unsere Vorstellungen von ‚Roma‘ und ‚Indien‘ entscheidend umgestaltet, sondern die beiden in der öffentlichen Wahrnehmung untrennbar miteinander verbunden.

Der Blick der Wissenschaft

Ich untersuche, wie Wissenschaftler_innen und Gelehrte die unterschiedlichen Gruppen der Roma vor allem anhand dieser These der ‚indischen Herkunft‘ zu ‚verstehen‘ versuchen, und welche erkenntnistheoretischen Folgen das hat. Dabei stellt sich auch die Frage, wie solch seismische Verschiebungen – von orientalistisch zu post-orientalistisch, strukturalistisch zu poststrukturalistisch, von kolonial zu postkolonial – den Blick der Wissenschaft auf die Roma als ‚Studienobjekte‘ verändern, und wie dieser sich stetig verändernde Blick ‚wissenschaftliche‘ Praktiken, Forschungsfragen und Methoden beeinflusst.

Theorien als erklärender Apparat

Das Problem ist dabei nicht so sehr die Theorie selbst, sondern die Tendenz mancher akademischen Gefilde, sie als ‚wissenschaftliche‘ Wahrheit zu betrachten. Die Hauptschwierigkeit ist, dass Wissenschaftler_innen, die diese Theorie beförderten, die Herkunft der Roma oft nicht empirisch untersucht, sondern ihre Schlüsse aufgrund anderer, ‚externer‘ Evidenz gezogen haben. Diese Schlüsse flossen in weitere Theoriebildung ein, basierend auf empirisch beobachteten und evidenzstiftenden Fakten.

Theorien an sich sind weder wahr noch falsch; sie dienen als erklärender Apparat. Sie sind grundlegend für Interpretationen und faktenbasierte Analysen, und somit, nach Popper (2005), falsifizierbar. Die Theorie der indischen Herkunft ist demnach, wie alle Theorien, heuristisch geleitet: Sie bedingt Interpretation und Analyse, und sollte als Diskurs und nicht als Wahrheit gelesen werden. Ich versuche, diese Theorie – ihre Heuristik und narrative Funktion – gegen den Strich zu lesen und aus postkolonialer und poststrukturalistischer Perspektive zu zeigen, wie sie für und von gewisse(n) ‚Wissensgemeinschaft(en)‘ (Haas 1992) sozial konstruiert, ideologisch vermittelt und kulturell manövriert wurde.

Die Brisanz von Herkunftsfragen

Es stellt sich also gar nicht so sehr die Frage, ob die Roma ursprünglich aus Indien kamen, sondern was die erkenntnistheoretischen Folgen dieser Verbindung sind. Wie konnte es überhaupt über Jahrhunderte hinweg zu einer zentralen akademischen Agenda werden, die indische Herkunft der Roma beweisen zu wollen, obwohl diese Theorie von den Roma selbst zu gleichen Teilen angenommen wie abgelehnt wird? Mit anderen Worten: Warum rütteln solche Herkunftsfragen Wissenschaftler_innen noch nach Jahrhunderten auf? Warum werden diese Fragen nach wie vor als wichtig genug erachtet, um Antworten darauf finden zu wollen? Was steht auf dem Spiel in diesem Projekt, für das die Roma selbst am wenigsten Beachtung zu zeigen scheinen?

„Felder der Kulturproduktion“

Ich problematisiere die Theorie der indischen Herkunft als Wissensprojekt und die ‚wissenschaftlichen Untersuchungen‘ selbst als ‚Felder der Kulturproduktion‘ (Bourdieu 2004). All jene, die solche Untersuchungen vornehmen, müssen demnach sorgfältig in Geschichte und Kontext situiert werden, um nachzuvollziehen, wie Positionen, Dispositionen und (Miss-)Verständnisse die wissenschaftliche Praxis und Ergebnisse anleiten.

So kann offengelegt werden, wie Werkzeuge, Methoden, Hypothesen und sogar Vorlieben aus der frühen Volkskunde- und Ethnologie-basierten Forschung ungeniert in spätere historisch-anthropologische Untersuchungen integriert und als ‚objektive und wissenschaftliche Unternehmung‘ (Mayall 2004) ausgegeben wurde. Dieses oft als ‚Gypsylorist‘ bezeichnete Paradigma (Okely 1983; Mayall 2004) wurde im Diskurs der Roma-Studien zum Selbstzweck und durchdringt sogar ‚moderne‘ medizinische und genetische Forschungsansätze.