Eine Frau sitzt im roten Sommerkleid in der U-Bahn, ihre Gedanken schweifen
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Psychologie

Auch spannend: Gedanken wandern lassen

Gefühlt 90 Prozent der Menschen im öffentlichen Raum schauen auf ihr Handy. Einfach einmal gar nichts tun und die Gedanken wandern lassen, ist die Ausnahme. Dabei kann das viel spannender und bereichernder sein, als die Menschen selbst glauben – Fachleute haben dieses Selbstmissverständnis nun experimentell untersucht.

Tagträumen, „ins Narrenkastl schauen“, den Bewusstseinsstrom fließen lassen: Gleichgültig, wie man es nennt, komplett leer ist die Bühne des inneren Auges selten, es spielt sich immer etwas ab. Und zwar auch ohne externe Reize. Dennoch halten viele Menschen diesen Zustand für langweilig und nicht erstrebenswert. Und suchen deshalb dauernd nach etwas, mit dem sie sich ablenken und unterhalten können. Das ideale Werkzeug dafür ist das Handy – dank Internet sorgt es permanent für Kommunikation, Musik, bewegte und unbewegte Bilder.

20 Minuten Selbstbeschäftigung

Der Grat zwischen echtem Vergnügen und Zeittotschlagen, wie es im Deutschen so trefflich heißt, ist für die User dabei ein schmaler. Sicher ist: Dem vermeintlich unangenehmen Wandern der eigenen Gedanken kann so entgangen werden. Wie unangenehm es ist und warum diese Skepsis unberechtigt ist, hat nun ein Team um den Psychologen Kou Murayama von der Universität Tübingen in einer Reihe von Experimenten untersucht.

Rund 260 Teilnehmer und Teilnehmerinnen wurden dabei in verschiedenen Settings vor eine Kernaufgabe gestellt: 20 Minuten in einem Raum zu sitzen und sich mit sich selbst zu beschäftigen – ohne äußere Ablenkung und Beschäftigung. Handys, Uhren und Ähnliches mussten deshalb für den Untersuchungszeitraum abgegeben werden, aufstehen, aus dem Fenster schauen oder Ähnliches war auch untersagt.

Zudem mussten die Probandinnen und Probanden vor der Selbstbeschäftigung kundtun, was sie von der Aufgabe erwarteten. Wenig überraschend zeigten sie dabei wenig Begeisterung: Auf einer Skala von eins (wenig) bis sieben (viel) erwartete eine der Probandengruppen ziemlich viel Langeweile (Wert: 5) und ziemlich wenig Vergnügen (Wert: 2,8). Nach den 20 Minuten Selbstbeschäftigung wurde sie erneut befragt – und siehe da: Die reale Erfahrung hatte die Einstellung deutlich verändert. Die Werte des Vergnügens waren deutlich gestiegen (3,4), jene der Langeweile deutlich gesunken (4,2.).

Eine Frau steht mit geschlossenen Augen vor Bäumen und der Sonne, sie sieht glücklich aus
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Es geschieht nicht „nichts“

Mit anderen Worten: Nichts tun, als sich mit dem eigenen Denken zu beschäftigen, empfanden die meisten zwar immer noch nicht sehr prickelnd. Das Unbehagen davor ist aber viel größer als während der eigentlichen Erfahrung. Und das ist laut den Psychologen auch kein Wunder, denn beim Wandern der Gedanken geschieht nicht „nichts“. Das ziellose Herumdenken könne dabei helfen, Probleme zu lösen und die Kreativität anzuregen. Gedankenfetzen aus der Vergangenheit können die Stimmung aufhellen und Sinnfragen des Lebens besser zu begegnen. „Wenn man dieses Denken absichtlich vermeidet, bringen sich die Menschen um diese Vorteile“, sagt der Psychologe Murayama.

Innere Belohnung

Den „Unterschätzungseffekt“ des Tagträumens gebe es unabhängig von der Kultur, schreiben die Autoren in ihrer Studie, die soeben im „Journal of Experimental Psychology“ erschienen ist. Er habe sich sowohl bei Probandengruppen in Japan als auch in Großbritannien gezeigt. Offenbar finden es Menschen überall schwierig, ihre abschweifenden Gedanken zu schätzen. Das könne damit zusammenhängen, dass sie deren positiven Auswirkungen im Inneren zu wenig im Blick haben und somit eher auf – wie es im Fachjargon heißt – extrinsische Belohnung setzen (Handy) als auf intrinsische.

Freilich ist auch intrinsisch nicht gleich positiv. „Nicht alle Gedanken belohnen intrinsisch, manche Menschen neigen zu Teufelskreisen negativen Denkens“, schränkt Murayama ein. Im Allgemeinen legt er mit seinen Kolleginnen aber nahe, Handys und andere Werkzeuge einmal beiseitezulegen, sich hinzusetzen – und die Gedanken von der Leine zu lassen.