Forscher mit Schutzanzug im Labor, vor ihm ein runder Spiegel
Matt Heintze/Caltech/MIT/LIGO Lab
Matt Heintze/Caltech/MIT/LIGO Lab
Moden der Wissenschaft

„Hin und Her, evidenzbasiert“

Vermutungen und Widerlegungen – das sind laut Lehrbuch die zwei Motoren des wissenschaftlichen Fortschritts. Doch das ist nicht die einzig mögliche Perspektive. Der Philosoph Axel Gelfert spricht sich im Interview mit science.ORF.at für eine Lesart aus, die auch Modeerscheinungen im Wissenschaftsbetrieb berücksichtigt.

science.ORF.at: Herr Gelfert, ganz grundsätzlich: Gibt es so etwas wie Moden in der Wissenschaft?

Axel Gelfert: Ja, das kann man sicher sagen, die Frage ist nur, was damit gemeint ist: Sind es bloß triviale Modeerscheinungen oder sind es tatsächlich Paradigmen, die sich ja durchaus auch verändern können?

Zur Person

Axel Gelfert lehrt und forscht am Institut für Philosophie, Literatur-, Wissenschafts- & Technikgeschichte der TU Berlin im Fachbereich Wissenschaftsphilosophie und Erkenntnistheorie.

Konzentrieren wir uns auf den nicht-trivialen Teil: Wie äußern sich diese Moden?

Gelfert: Die direkteste Herangehensweise wäre nachzuschauen, wie viel Wissenschaft zu einem Thema produziert wird. Das ist eine Frage der Bibliometrie, man sieht sich also an, wie viele Artikel in einem Gebiet publiziert und wie viele Zitationen dort gewissermaßen angehäuft wurden. Da gibt es einige Präzedenzfälle in der Wissenschaftsforschung: Derek de Solla Price hat schon in den 1950ern abgezählt, was Zeitschriften zu verschiedenen Themen publizieren – und festgestellt, dass es sowohl global als auch lokal immer wieder Phasen exponentiellen Wachstums gibt. Das wäre also ein erstes Indiz für das Vorhandensein einer Mode.

Wann und wo war das der Fall?

Gelfert: Zum Beispiel in der Molekularbiologie nach der Entdeckung der DNA-Doppelhelix: Da gab es sicherlich eine Phase exponentiell wachsender Publikationszahlen. Aktuell passiert so etwas vermutlich im Bereich Künstlicher Intelligenz und neuronaler Netzwerke. Forschungsthemen sorgen immer wieder für Aufmerksamkeit, ziehen Generationen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen gewissermaßen an – und werden dadurch zu einer Art Selbstläufer.

Mit der Neubetrachtung des Forschungsgegenstandes kann man aber auch etwas verlieren. Um beim genannten Beispiel zu bleiben: Der Blick aufs Ganze, also die organismische Biologie, hat durch die molekulare Wende an Einfluss verloren.

Gelfert: Da ist etwas dran, mit jedem Wachstum eines Feldes ist oft genug ein Verlust verbunden, was andere Perspektiven angeht. Ich würde Ihnen zustimmen, dass es in den letzten Jahrzehnten einen sehr starken Fokus auf das Sequenzieren von Genomen gab und traditionelle Bereiche – wie zum Beispiel die Morphologie, die Lehre von den Formen – aus dem Blickfeld geraten sind. Allerdings gibt es auch eine Art Pendelbewegung: Durch die Erweiterung zur Epigenetik rückt die organismische Seite wieder in den Mittelpunkt. Dieses Hin und Her charakterisiert die Wissenschaft – das ist aber keine Modeerscheinung im vergänglichen Sinne, sondern fußt in den Fällen guter Wissenschaft auf Evidenzen. Es ist ja nicht grundlos, dass so viel Aufmerksamkeit in die Molekularbiologie geflossen ist. Sie hat unser Verständnis vom Leben auf der Erde maßgeblich verändert. Und verbessert, das kann man wohl so sagen.

Wobei die Aufmerksamkeit durchaus umkämpft sein kann: Von Max Delbrück, dem Begründer der molekularen Methode in der Biologie, ist der Ausspruch überliefert: „Es gibt zwei Arten von Biologie: die molekulare – und den Rest, also Briefmarkensammeln.“

Gelfert: Hier berühren wir einen interessanten Graubereich der Wissenschaftsentwicklung. Beziehungsweise die Zweideutigkeit des Begriffs „Mode“: Dass es Veränderungen und manchmal auch einen Boom in der Wissenschaft gibt, ist das eine. Dies kann aber auch andere Gründe haben als Erkenntnisinteresse. Mode dient nämlich nicht nur funktionalen Zwecken, sie ist auch Distinktionsmerkmal – so ähnlich, wie das auch bei Textil- und Kleidungsindustrie der Fall ist. Das gilt insbesondere für die Wissenschaft der Gegenwart, wo die Außenwirkung, die Konkurrenz um Fördermittel – und manchmal auch die Selbstdarstellung – an Oberhand gewinnt.

Gemeinhin assoziert man mit Wissenschaft objektives und gesichertes Wissen. Mode hingegen steht für Flatterhaftigkeit, für Willkür. Wie passt das zusammen? Ist das ein Widerspruch?

Gelfert: Es ist dann kein Widerspruch, wenn man die Komplexität von Wissenschaft anerkennt. Gerade in den letzten Jahren ist uns allen bewusst geworden, dass Wissenschaft ein Prozess ist. Wissenschaft ist nicht nur eine Ansammlung fertiger Fakten und Theorien, die auf neue Umstände angewandt werden können. Sondern ein fehlbarer Prozess, der manchmal auch Rückschritte beinhaltet. Wenn man sich das bewusst macht, dann ist es nicht mehr so verwunderlich, dass es auch in der Wissenschaft Modeerscheinungen gibt. Auch solche, die keinen großen Erkenntniswert haben. Davon abgesehen: Gerade in Situation, in denen wir noch keine fertigen Theorien zur Verfügung haben und noch gar nichts über den Untersuchungsgegenstand wissen – da ist es durchaus von Vorteil, wenn es konkurrierende Denkstile und Forschungsprogramme gibt.

Sind Sie in Ihrer eigenen Forschung schon Moden gefolgt?

Gelfert: Den Geisteswissenschaften wird ja manchmal vorgeworfen, sie seien nichts als Modeerscheinung. Als studierter Physiker kenne ich jedenfalls beide Seiten und kann sagen: Auch die angeblich so harten Naturwissenschaften sind da nicht immun. Was meine eigene Arbeit betrifft, fällt es mir schwer, das zu beurteilen. Ich denke, man kann sich von disziplinären Prägungen nicht frei machen. Jede Wissenschaftsdisziplin produziert auch so etwas wie ein Selbstbild – und insofern ist wohl niemand frei von Modeerscheinungen.