Marcel Proust
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Marcel Proust

„Gnadenloser Entzauberer der Liebe“

Vor 100 Jahren, am 18. November 1922, ist der französische Schriftsteller Marcel Proust verstorben. Sein Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zählt zu den bedeutendsten Texten des 20. Jahrhunderts. Der Philosoph Walter Benjamin – einer der ersten Leser und Übersetzer von Proust – bezeichnete ihn als „illusionslosen, gnadenlosen Entzauberer der Moral und der Liebe“.

Prousts umfangreiches Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ weist zahlreiche Facetten auf: Es ist ein Generalangriff gegen die philosophische These einer personalen Identität, die sich an rationalen Kriterien orientiert. Der Autor präsentiert hingegen Sinneseindrücke, Erinnerungen und körperliche Empfindungen eines Erzählers, dessen chaotische Innenwelt sich zu keiner Ganzheit zusammenfügt. Der Philosoph Theodor W. Adorno verstand den Roman als einen grandiosen Versuch, „die Nichtidentität des psychologischen Subjekts inmitten seiner Identität darzustellen“.

Dekonstruktion der Ich-Identität

Der Gesellschaftskritiker Proust verknüpft die Dekonstruktion der Ich-Identität mit Beobachtungen des Erzählers, die er in der Außenwelt macht. Außenwelt bedeutet konkret: die Salons der Hocharistokratie und des Großbürgertums, in denen er bis zu seinem 35-jährigen Lebensjahr verkehrte. Dort konnte Proust zahlreiche Facetten des „Menschlichen, Allzumenschlichen“ wie Heuchelei, Eifersucht, Bosheit und Rachsucht beobachten. Die Erinnerungen daran tauchen später in dem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auf. Die Schilderung der Konversationen, die der Erzähler kommentarlos wiedergibt, demaskieren eine Gesellschaftsschicht in ihrer ganzen Hohlheit und Oberflächlichkeit.

Der französische Philosoph und Semiologe Roland Barthes setzte sich in dem in Kürze erscheinenden Werk „Proust. Aufsätze und Notizen“ mit der Gesellschaftsanalyse des Schriftstellers auseinander. Sie findet sich in Unterrichtsmaterial für eine Vorlesung, die Barthes 1970 in Marokkos Hauptstadt Rabat gehalten hat. Dabei verwies Barthes auf drei soziale Klassen: Die Aristokraten, die über keine politische Macht verfügen, die Bourgeoisie der Hochfinanz und die Neureichen. Diese Gruppen unterscheiden sich durch ihren Lebensstil – durch Wohnverhältnisse, Bekleidung, Moden, Bedienstete, Gewohnheiten, ihre jeweiligen Ausdrucksweisen und durch ihre subtilen und ungeschriebenen Regeln.

Sozialer Ethnograph

Das Proustsche Werk stellt laut Barthes eine soziale Ethnographie dar. Proust nimmt nicht Bezug auf eine ökonomische Basis, er hat nicht versucht, sondern, indem er das Wesen ihres Funktionierens anvisiert, beschreibt er Gewohnheiten, Sprechweisen, Werte, Konkurrenzen, Bilder, Klassifikationen: Sagen, wie die Menschen in einem bestimmten Milieu untereinander mit Hilfe von Zeichen kämpfen, und wie man lernt, diese Zeichen zu entziffern, das ist die doppelte Aufgabe, die der Proustsche Erzähler während des gesamten Verlaufs der Erzählung erfüllt.

Vielfach wurde Proust die Verklärung der dekadenten Gesellschaftsschicht vorgeworfen – vor allem von marxistischen Literaturtheoretikern. Er selbst galt als Dandy und Snob. Der Philosoph Walter Benjamin – einer der ersten Leser und Übersetzer von Proust – wandte sich gegen diese dogmatische Einschätzung des Romans; er bezeichnete Proust als „illusionslosen, gnadenlosen Entzauberer der Moral und der Liebe“. Proust ist weniger der Romantiker der feinen Emotionen, sondern radikal desillusionierend, wenn er zum Beispiel darauf verweist, dass sich Liebesbeziehungen meist als Chimären erweisen.

Prousts „böser Blick“

Der Erzähler kommt zu der von Arthur Schopenhauer inspirierten Erkenntnis, dass selbst so positiv besetzte menschliche Beziehungen wie Liebe und Freundschaft von dem universell verbreiteten Egoismus der Individuen geleitet werden. Darauf hat bereits Samuel Beckett in seiner Studie über Proust hingewiesen. Dort schrieb er, „dass der Mensch das Wesen sei, das von sich selbst nicht loskommen könne, das Andere nur in sich selbst kenne und das lüge, wenn es das Gegenteil verkünde“.

Selbst geliebte Personen wie die Großmutter des Erzählers, mit der er als Kind viele Stunden verbrachte, werden nicht von dem entlarvenden „bösen Blick“ Prousts verschont; und zwar in einer Passage, in der der Erzähler eines Tages heimkommt und seine Großmutter, die inzwischen schwer erkrankt ist, zum ersten Mal mit unverstelltem Blick sieht – der Illusion beraubt, die er bisher von ihr als Inbegriff einer distinguierten Person gehabt hat. Da heißt es, dass das eine gewöhnliche alte Person war, die er so nicht kannte.

Familiäre jüdische Wurzeln

Neben der Destruktion der personalen Identität und der Gesellschaftskritik findet sich in Prousts Roman eine Thematik, die vielfach übersehen wurde: seine Auseinandersetzung mit der Tradition des Judentums, die der Literaturkritiker Andreas Isenschmid in der Studie „Der Elefant im Raum. Proust und das Jüdische“ analysiert. Prousts Verhältnis zum Judentum war ambivalent: Bewunderung wechselte mit abwertenden Bemerkungen, wobei die Wertschätzung überwog. „Die Geschichte der Juden sei trotz einiger Holzschnitzereien ein Strom hochnuancierter ambivalenter Einzelheiten“, lautet Isenschmids Kommentar.

Proust war mit dem Judentum biographisch verbunden. Als Sohn eines katholischen Vaters und einer jüdischen Mutter, mit der ihn eine intensive Beziehung verband, war er mit dieser Tradition vertraut. Dazu trug auch seine jüdische Verwandtschaft bei, die ihm kulturelle Grundlagen des Judentums vermittelte. Dafür entfaltete Proust eine große Sympathie, wie eine Notiz beweist: „Alle haben vergessen, dass ich jüdisch bin. Ich nicht.“

Die Dreyfus-Affäre

Ausführlich widmete sich Proust dem Thema Antisemitismus, der besonders in den elitären Kreisen der Pariser Salons, in denen Proust verkehrte, weit verbreitet war. Ein Höhepunkt des Antisemitismus, der von wüsten Hasstiraden begleitet war, die teilweise die nationalsozialistischen Propaganda gegen Juden vorwegnahm, stellte der Justizskandal um den jüdischen Offizier Alfred Dreyfus dar, der wegen angeblichen Hochverrats verhaftet und nach einem dubiosen Prozess deportiert wurde.

Eine mögliche Revision des Prozesses spaltete die Nation in „Antidreyfusards“ und „Dreyfusards“, zu denen Proust zählte. „Von starken Gefühlen geleitet“ verfolgte er den Prozess und unterzeichnete das von Emile Zola initiierte Manifest „J´accuse“, in dem sich zahlreiche Intellektuelle für einen Freispruch des Offiziers einsetzten.

Im Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ finden sich zahlreiche Hinweise auf die Dreyfus-Affäre und auf die jüdische Tradition. Das Fazit der Studie von Andreas Isenschmid lautet: „Denn wenn Prousts Roman auch aus schönsten, alle Abstraktionen unterlaufenden Einzelheiten besteht, so ist doch offenkundig, dass im Kreislauf dieser Einzelheiten, wie geheimnisumhüllt auch immer, doch stets ein jüdisches Herz mitschlägt. Man darf dieses Jüdische nicht zu deutlich benennen, doch vergessen wird es nie.“

Geboren und gestorben in Paris

Geboren wurde Marcel Proust am 10. Juli 1871 im Pariser Vorort Auteuil. Sein Vater war ein angesehener Arzt und Epidemiologe, seine Mutter stammte aus dem jüdischen Finanzbürgertum. Auf Wunsch des Vaters begann Proust ein Jura-Studium; parallel dazu besuchte er philosophische Vorlesungen an der Universität Sorbonne. Nach dem Abschluss des Studiums verfasste Proust Erzählungen und arbeitete an dem Romanprojekt „Jean Santeuil“, das er nicht fertigstellte. Er las die Schriften des englischen Schriftstellers und Kunstkritikers John Ruskin, die er teilweise übersetzte und beteiligte sich an den literarischen Debatten in Paris.

Prousts schlechter gesundheitlicher Zustand führte zu seinem allmählichen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Dazu zwangen ihn schwere Asthmaanfälle, unter denen er schon als Jugendlicher zu leiden hatte. In den verdunkelten Räumen seiner Wohnung in Paris arbeitete er bis zu seinem Tod am 18. November 1922 an dem mehrbändigen Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.