Zwei mit epiduraler Stimualtionstherapie behandelte Patienten beim Gehen
NeuroRestore-Jimmy Ravier
NeuroRestore-Jimmy Ravier
Nervenstimulation

Was Gelähmte wieder gehen lässt

Mit Hilfe von im Rückenmark implantierten Elektroden können sich gelähmte Personen wieder ein bisschen bewegen. Massentauglich ist die teure und langwierige Therapie noch nicht, ein Forschungsteam hat nun aber in Tierexperimenten jene Nervenzellen gefunden, die für das erneute Lernen der Beinbewegungen nötig sind.

Bei der Rückenmarkstimulation gibt ein implantierter Träger mit eingebetteten Elektroden kleine elektrische Impulse an Nervenbahnen ab, die Neuronen im Rückenmark anregen. Die Therapie ist bereits seit Längerem in der Behandlung von chronischen Schmerzen im Einsatz.

Neben der Schmerztherapie ist die Methode aber auch für Menschen von Bedeutung, die nach einer Wirbelsäulenverletzung gelähmt sind. „Schon vor einigen Jahren haben wir erkannt, dass die sogenannte epidurale Stimulation sogar Querschnittgelähmten helfen kann, einen Teil ihrer motorischen Fähigkeiten in den Beinen wiederzuerlangen“, erklärt Karen Minassian vom Zentrum für Medizinische Physik und Biomedizinische Technik der Medizinischen Universität Wien.

Vom Rollstuhl aufs Laufband

Minassian war Teil des Forschungsteams um Grégoire Courtine von der Eidgenössischen Technischen Hochschule (EPFL) Lausanne und dem Universitätsspital Lausanne (Schweiz), das schon im Jahr 2018 nachgewiesen hat, dass die implantierten Elektroden einen Teil der Bewegungsfähigkeit wiederherstellen können. Die damals mit den elektrischen Impulsen versorgten Patienten konnten schon am ersten Tag nach dem Start der Therapie Schritte auf einem Laufband machen.

Die neun mit epiduraler Stimualtionstherapie behandelten Patientinnen und Patienten können wieder stehen und einige Schritte machen
NeuroRestore-Jimmy Ravier
Die neun Patientinnen und Patienten können nach der Therapie wieder stehen und einige Schritte gehen

Aufbauend auf diese Erkenntnisse hat das Team die Methode an insgesamt neun stark oder sogar komplett gelähmten Personen getestet. Auch Minassian war an der Untersuchung beteiligt und erklärt gegenüber science.ORF.at: „All diese Patienten waren Personen, denen nach ihrer Verletzung eigentlich gesagt wurde, dass sie ihr Leben lang im Rollstuhl sitzen oder im Bett liegen werden. Diese Patienten können nun stehen und sogar einige Schritte gehen.“

Veränderte Neuronen

Die Patientinnen und Patienten behielten einen Teil ihrer Bewegungsfähigkeiten sogar, nachdem die Therapie und die elektrischen Impulse gestoppt wurden. Laut Minassian ist das ein klares Zeichen dafür, dass sich die für das Gehen nötigen Nervenfasern und Neuronen im Rückenmark nach der Verletzung und durch die Therapie so verändern, dass sie mit einer geringen Restaktivität, welche die Verletzungsstelle passiert, immer noch arbeiten können.

Grafik erklärt Rückenmarksstimulation
NeuroRestore

Welche Neuronen im Rückenmark sich dabei konkret ändern und reorganisieren, war bisher unklar. In einer aktuell im Fachjournal „Nature“ präsentierten Studie haben die Forscherinnen und Forscher nun aber eine Antwort darauf gefunden. Sie haben untersucht, welche neuronalen Mechanismen für das Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit nötig sind.

Tests an Mäusen

Dazu untersuchte das Team gelähmte Mäuse im Labor. Die Forscherinnen und Forscher versorgten das Rückenmark der Tiere mit elektrischen Impulsen, die wie die epidurale Stimulationstherapie bei Menschen wirkten.

Darüber hinaus erstellten die Forscherinnen und Forscher die – laut eigenen Angaben – erste 3D-Molekülkarte der Zellen im Rückenmark von Mäusen. Damit war es möglich, unterschiedliche Nervenzelltypen zu kategorisieren und den Genesungsprozess der Tiere genauer denn je zu beobachten.

Aktivierte Neuronen ermöglichen Bewegung

Dem Team fiel im Rahmen der Untersuchung eine Gruppe von Neuronen ins Auge, die in den Mäusen mit der Aktivität von zwei Genen namens Vsx2 und Hoxa10 assoziiert sind. Die Forscherinnen und Forscher konnten diese nun identifizierten Neuronen daraufhin gezielt aktivieren oder deaktivieren.

Bei den gelähmten Mäusen, die durch die Elektroden teilweise wieder gehen konnten, führte das Abschalten der Neuronen zu einem sofortigen Verlust der Gehfähigkeit. Bei gesunden Mäusen hatte hingegen weder das Aktivieren noch das Deaktivieren eine Wirkung. „Das zeigt uns, dass die Neuronen bei gesunden Mäusen nicht unbedingt nötig sind, um zu gehen“, so Minassian. Wenn aber der Informationsfluss zwischen dem Gehirn und dem Rückenmark durch eine Verletzung unterbrochen ist, verändere sich die Funktion der Neuronen so sehr, dass sie essenziell für das Wiedererlangen der Bewegungsfähigkeit werden.

Gleiche Wirkung bei Menschen wahrscheinlich

Ob die Neuronen, die bei den gelähmten Mäusen für die Bewegungsfähigkeit unabdingbar sind, auch bei Menschen diese Rolle übernehmen, muss laut Minassian erst noch geklärt werden. Zumindest sei es aber sehr wahrscheinlich: „Diese Neuronen und Gene kommen immerhin in zahlreichen Tieren vor, die auf genetischer Ebene einige Gemeinsamkeiten mit uns Menschen haben.“ Minassian selbst arbeitet derzeit an einem Projekt an der Medizinischen Universität Wien, bei dem er die Neuronen auch in menschlichem Rückenmarksgewebe von Körperspendern sucht.

Kostenübernahme notwendig

Die neuen Erkenntnisse könnten die epidurale Stimulationstherapie in Zukunft weiter verbessern. Bis die Methode aber tatsächlich breit in der Praxis zur Anwendung kommt, könnte es noch einige Zeit dauern. Minassian: „Die Methode gibt es schon seit circa 50 Jahren – so wie in unserer Studie wurde sie aber bis jetzt erst neun Mal in der Schweiz und rund dreißig Mal in den USA angewendet.“ Die Methode müsse für die spezielle Anwendung erst noch klinisch zugelassen werden. Nicht zu unterschätzen seien außerdem die hohen Kosten, die mit der Therapie und der danach nötigen Rehabilitationszeit verbunden sind.

Künftig seien daher vor allem Versicherungen und politische Entscheidungsträger gefragt, die anfallenden Kosten zu einem größeren Teil zu übernehmen. Laut Minassian seien auch spezielle Reha-Zentren notwendig, denn: „Durch die Therapie werden den gelähmten Menschen zwar die ersten Schritte ermöglicht, tatsächlich gehen lernen sie dann aber erst in der oft langwierigen und deshalb auch teuren Reha.“ Ein klares Ziel für die kommenden Jahre sei es daher, die Behandlung kostengünstiger zu machen und sie so zahlreichen weiteren Patientinnen und Patienten zur Verfügung zu stellen. „Wir wollen damit nicht nur zehn oder zwanzig Personen helfen, sondern tausenden oder zehntausenden“, so Minassian.

Irgendwann könnte die Methode auch bei anderen Problemen zum Einsatz kommen, die mit Störungen im Rückenmark zusammenhängen oder die Aktivierung bestimmter Neuronen behindern – etwa bei Multipler Sklerose oder Parkinson.