Raimund Titsch, Julius Madritsch und Oswald Bouska wurden in Krakau zu Gegnern der NS-Rassenideologie
Privat; Nachlaß Julius Madritsch; LPD Wien (Montage)
Privat; Nachlaß Julius Madritsch; LPD Wien (Montage)
NS-Widerstand

Kein Gedenken an drei Wiener

Die drei Wiener Raimund Titsch, Julius Madritsch und Oswald Bouska haben während der NS-Zeit in Polen knapp 800 jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor Deportation und Tod bewahrt. In Israel werden sie dafür seit 60 Jahren als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt, in Wien hingegen erinnert bis heute nichts an sie. Versuche, die öffentliche Gedenkkultur hier in Gang zu bringen, scheiterten bisher an unterschiedlichen Vorstellungen von „angemessenem Erinnern“, wie Andreas Novak, Dokumentarfilmer und ehemaliger Leiter der ORF-Doku-Reihe „Menschen & Mächte“, in einem Gastbeitrag schreibt.

„Zuwenig Gerechte“, so titelte die 2014 verstorbene Doyenne der österreichischen Zeitgeschichte Erika Weinzierl ihr 1969 erschienenes Buch über „Österreicher und die Judenverfolgung von 1938 – 1945“. Politische Gegner, die KZ-Haft und Repressionen überlebten, wurden nach Kriegsende in die öffentliche Aufmerksamkeit gehoben, fanden sich in den Nachkriegskabinetten gemäß der Moskauer Deklaration von 1943, die auch einen Eigenanteil an der Befreiung, also Widerstand gegen das NS-Regime einforderte.

Alle anderen, die sich aus humanitären, religiösen, militärischen oder anderen Gründen widersetzten, fielen schnell dem Vergessen anheim oder gerieten in die Mühlen der Opferfürsorge-Bürokratie. Ihr Widerstand wurde gleichsam privatisiert. Zu dieser Gruppe zählten auch die drei Wiener: Raimund Titsch, Julius Madritsch und Oswald Bouska (siehe Bild oben).

Schneiderei als Lebensrettung

In Polen erleben sie die mörderische Umsetzung der Rassenideologie, erkennen den verbrecherischen Charakter des Regimes und werden zu entschiedenen NS-Gegnern. Julius Madritsch, – gelernter Textilkaufmann, nach der Einberufung zur Wehrmacht nach Polen versetzt -, leitet in den Ghettos von Krakau und Tarnow Textilwerkstätten zur Fertigung von Wehrmachtsuniformen. In dieser kriegswichtigen Branche beschäftigt er Jüdinnen und Juden, auch jene, die vom Schneiderhandwerk keine Ahnung haben. Als Arbeitskraft gebraucht zu werden bedeutet Lebensrettung, Rettung vor drohender Deportation, zumindest vorerst. Die Errichtung des Ghettos ordnet übrigens der als Krakauer Distriktgouverneur eingesetzte Wiener Kriegsverbrecher Otto Wächter an.

Zwangsarbeit im KZ Plaszow, festgehalten von Raimund Titsch
United States Holocaust Memorial Museum, courtesy of Leopold Page Photographic Collection
Zwangsarbeit im KZ Plaszow, festgehalten von Raimund Titsch

Die Betriebsleitung der Werkstätten liegt in den Händen des Wieners Raimund Titsch, der Anfang 1942 nach Krakau kommt. So berichtet die Holocaust-Überlebende Rina Birnhack, die in einer der Werkstätten beschäftigt war, Raimund Titsch habe sich – „soweit das in einem Zwangsarbeits- und Konzentrationslager möglich war – rührend um die Belange und Nöte der Madritsch-Arbeiterschaft gekümmert“.

Mit Madritsch verbindet ihn das Entsetzen über die Behandlung der jüdischen Bevölkerung. Die beiden legen Wert auf humane Arbeitsbedingungen mit entsprechenden Ruhezeiten. Sie versorgen die Beschäftigten mit warmer Kleidung im Winter, mit Sonderrationen an Lebensmittel, auch mit dem „Luxusgut“ Marmelade. Viele Verfolgte hatten vor der Zwangsumsiedelung Geld bei polnischen Bekannten in Krakau zurücklassen. Raimund Titsch kontaktiert sie und bringt Pakete mit Kleidung und Geld ins Ghetto.

Humanist und Deserteur Oswald Bouska

All das gelingt überwiegend mit Hilfe des dritten Wieners, dem Vize-Kommandanten der Krakauer Ghetto-Wache Oswald Bouska, einem Geläuterten. Anfänglich Nationalsozialist und SS-Mitglied mutiert er unter dem Eindruck von Verfolgung, Misshandlung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung zum NS-Gegner. Tarnen und Täuschen lautet seine Devise: Als SS-Untersturmführer geht er am Tag zum Schein recht barsch mit den Bewohnerinnen und Bewohnern um. Nachts hingegen schmuggelt er immer wieder Familien aus dem Ghetto. Kleine Kinder erhalten Schlafmittel und werden in größere Rucksäcke „verpackt“. Gute Kontakte zu Krakauer Familien ermöglichen die Unterbringung in deren Wohnungen und anderen Verstecken.

Unmittelbar vor der Liquidierung des Ghettos und der Deportation der letzten Bewohner und Bewohnerinnen in das nahe gelegene Konzentrationslager Plaszow am 13. und 14. März 1943 ermöglicht Bouska noch die Rettung einiger zur Ermordung bestimmter jüdischer Kinder. Im Gegensatz zu Madritsch und Titsch fliegt Bouska auf. Außerdem verweigert er den Einberufungsbefehl und desertiert. Einem Unrechtsregime will er nicht weiter dienen. Er wird gefasst und am 18. September 1944 im KZ Großrosen nahe Breslau erschossen.

Madritschs Liste rettete zu Kriegsende 60 Juden und Jüdinnen vor der Deportation
ORF
Madritschs Liste rettete zu Kriegsende 60 Juden und Jüdinnen vor der Deportation

Letzte Rettungsversuche

Durch Bestechung und persönliche Kontakte zum Kommandanten des KZ-Plaszow, dem Massenmörder Amon Göth, ebenfalls ein Wiener, gelingt es Madritsch, als einzigem Privatunternehmer in fünf Baracken Textil-Werkstätten errichten zu dürfen. „Man benötige sie auch für Aufräumungsarbeiten“. Unter diesem Vorwand können Madritsch und Titsch fünfhundert Arbeiter bis zum 5. Oktober 1944 im Lager halten.

Danach geht nichts mehr. Als der Deportationsbefehl nach Auschwitz und Groß-Rosen einlangt, kann Madritsch als letzte humanitäre Aktion gerade noch durchsetzen, dass zumindest sechzig von ihnen auf die Liste Oskar Schindlers, mit dem er Kontakt pflegt, aufgenommen und in dessen tschechische Waffenfabrik nach Brünnlitz gebracht werden.

Titsch-Fotos dokumentieren den Terror

Fotos von Zwangsarbeit und Terror in Plaszow verdanken wir Raimund Titsch. Auch jene von Amon Göth, der fast täglich wahllos Jüdinnen und Juden vom Balkon seiner Villa erschießt. Die heimlich gemachten Bilder sollten als Beleg für die Verbrechen, aber auch als Mahnung dienen. Es war unmöglich, alle in den Werkstätten Beschäftigten vor Deportation und Tod zu bewahren. Doch es gelang den drei Widerstandskämpfern im Laufe der Jahre, immerhin fast 800 Jüdinnen und Juden das Leben zu retten.

Amon Göth auf dem Balkon mit seinem Gewehr, aufgenommen von Raimund Titsch
Raimund Titsch
Amon Göth auf dem Balkon mit seinem Gewehr, aufgenommen von Raimund Titsch

Am Beispiel der drei Wiener lassen sich die Handlungsspielräume zwischen Mitläufertum, gelebter Menschlichkeit und Barbarei verdeutlichen. Widerstand und mörderischer Pflichterfüllung als Gegenpole: Madritsch, Titsch und Bouska einerseits, der massenmordende Plaszow-Kommandant Göth und der Wiener SS-Mann und Kriegsverbrecher Otto Wächter andererseits.

Keine Erinnerung in Wien

In Wien erinnert nichts an Madritsch, Titsch und Bouska. Sehr wohl jedoch in Yad Vashem. Bereits seit 1964 tragen sie dort den Ehrentitel „Gerechte unter den Völkern“. Um ihre mutigen Leistungen aus dem Vergessen zu holen, sendete die „Menschen & Mächte“ Redaktion des ORF am 19. Jänner 2022 die Doku „Die drei Gerechten“, gestaltet von Georg Ransmayr. Noch während der Produktion überlegten sich Ransmayr und ich als damaliger Redaktionsleiter, Vorschläge für eine Initiative der Stadt Wien gegen historischen Gedächtnisschwund und eine sichtbare Form der späten Würdigung und Anerkennung.

Dafür kam der Bau eines Denkmals oder Straßenbenennungen in Frage. Letztere werden aber oft an den Stadtrand verbannt, in Gebiete, wo neu gebaut wird, um sich bei Umbenennungen Proteste von Bewohnern wegen erforderlicher Ummeldungen der Adressen zu ersparen. Andererseits war das beim ehemaligen Lueger-Ring durch breiten öffentlichen Druck kein Thema.

Vorschlag: Gemeindebauten benennen

Letztlich schlugen wir dann vor, unbenannte Gemeindebauten in den ehemaligen Wohnbezirken nach ihnen zu benennen. Das betraf Wien-Landstraße (Julius Madritsch), Wien-Alsergrund (Oswald Bouska) und Wien-Hietzing (Raimund Titsch.) In der Hoffnung auf eine leichte und problemlose politische Übung fügten wir unseren Vorschlag auch in die Doku ein und setzten uns bereits vor der Ausstrahlung mit Wohnbaustadträtin Karin Gaal in Verbindung. Gleichzeitig kontaktierten wir die drei Bezirksvertretungen und übermittelten sämtliche Unterlagen. Corona-bedingt kam es vorerst zu Entscheidungsverzögerungen der Bezirksparlamente, da die Gremien recht unregelmäßig tagten.

Enttäuschender Amtsweg

Im 9. Bezirk hatten wir vorgeschlagen, den noch unbenannten Gemeindebau in der D’Orsaygasse 3-5 nach dem ermordeten Oswald Bouska zu benennen. Das wurde von der Bezirksvertretung einstimmig abgelehnt. Die Bezirksvorsteherin ließ uns wissen: Man benenne nur mehr nach Frauen. Das ist sehr löblich, befremdet aber gleichzeitig, handelt es sich doch um einen hingerichteten Widerstandskämpfer. Sensibilität dürfte nicht zu den vorhandenen Stärken zählen. Aus dem 13. Bezirk hingegen kam ein einstimmiger Beschluss, aus dem 3. Bezirk einer mit Mehrheit. Auch Gemeindebauten waren bereits ausgewählt. Doch die Freude währte nur kurz.

Gaal als auch „Wiener Wohnen“ setzten sich über die Beschlüsse der beiden Bezirksparlamente hinweg. Gaal ließ wissen: „Hauptargument einer derartigen Ehrung ist immer der frühere Wohnsitz in der entsprechenden Wohnhausanlage. Der zu Ehrende muss einen Bezug zur Wohnhausanlage haben.“ Aha. Gemäß dieser Logik fragten wir uns, welchen Bezug etwa der 1943 verstorbene Schriftsteller Karl Schönherr zum 1953 errichteten Schönherr-Hof im 9. Bezirk hatte? Oder der Psychiater Wagner-Jauregg zum gleichnamigen Gemeindebau in der ebenfalls im 9. Bezirk gelegenen Lustkandlgasse?

Vorschläge der Stadt: Erinnerungstafeln

Gaal weiter: „In wenigen Ausnahmefällen kann ein Wohnsitz in unmittelbarer Nähe Anlass für die Ehrung durch eine Erinnerungstafel sein, ist eine Anbringung am eigentlichen früheren Wohnsitz nicht möglich.“ In diesem Sinne kamen drei Vorschläge für Gedenktafeln in den drei Bezirken. Angebracht an Gemeindebauten, mit denen Madritsch, Titsch und Bouska nichts zu tun hatten außer die Nähe zu ihren ehemaligen Wohnsitzen. Erwähnt sei hier die Auswahl für Madritsch im dritten Bezirk, auf Landstraße 11. Am Josef Pfeifer-Hof, benannt nach einem langjährigen Bezirksvorsteher, soll die Gedenktafel angebracht werden (siehe Foto). Und das, obwohl es im dritten Bezirk eine Reihe unbenannter Gemeindebauten gibt.

Pfeifer-Hof heute
Andreas Novak
Josef Pfeifer-Hof in Wien

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass sich nach der Sendung Gerald Hesztera vom Innenministerium meldete und mehr über den ehemaligen Polizisten Bouska wissen wollte. Das war im Jänner 2022. Mein damaliger Vorschlag, doch auch im polizeilichen Bereich für Erinnerung zu sorgen, etwa durch eine Skulptur in einer der Wiener Polizeikasernen, wurde zur Kenntnis genommen. Seither haben wir nichts mehr gehört, außer Heszteras bewundernde Erwähnung von Bouskas Mut in einem Podcast im Juli 2022. Auch Bürgermeister Michael Ludwig versprach, sich um die Sache zu kümmern. Ergebnis: nichts mehr gehört.

Beschämende Form von „Gedenkkultur

Jedenfalls stimmten wir der Gedenktafelvariante nicht zu. In Anbetracht ihrer Leistungen verdienen die drei in der öffentlichen Erinnerungskultur wohl mehr als „klein, klein“, mehr als sinnentleert angebrachte Taferln. In Polen riskierten sie täglich ihr Leben. Oswald Bouska hat das Seine verloren. Im Übrigen könnte auch die Marokkaner-Polizeikaserne in Oswald Bouska-Kaserne umbenannt werden.

Mittlerweile sind die letzten von Madritsch, Titsch und Bouska Geretteten gestorben. Über öffentliche Ehrungen ihrer Lebensretter hätten sie sich gefreut, wären dafür trotz ihres hohen Alters nach Wien gekommen. Alles in allem: eine recht beschämende Form von „Gedenkkultur“. Angemessenes Erinnern sieht jedenfalls anders aus.

Kritik von Brigitte Bailer und Oliver Rathkolb

Das kritisiert heute auch die ehemalige Leiterin des Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes Brigitte Bailer: „Madritsch, Titsch und Bouska bewiesen Mut und Einsatzbereitschaft, die weit über einfache Zivilcourage hinausgingen und nicht hoch genug zu würdigen sind. Eine öffentlich unübersehbare Anerkennung in Form einer Benennung von städtischen Wohnhausanlagen, von denen zahlreiche bis heute ohnehin namenlos geblieben sind, wäre nicht nur eine für jeden sichtbare Ehrung ihrer Leistungen, eine solche könnte auch Anlass für intensivere weitere Befassung mit der Frage nach Zivilcourage in einem Unrechtsregime, aber auch deren Bedeutung zur Abwehr demokratiegefährdender und menschenfeindlicher Tendenzen darstellen.“

Bürokratisch, formale Spitzfindigkeiten im Zusammenhang mit dem Gedenken an Madritsch, Titsch und Bouska befremden auch den ehemalige Vorstand des Wiener Institutes für Zeitgeschichte Oliver Rathkolb: „Während international immer wieder außergewöhnliche Menschen, die unter Lebensgefahr während des Nationalsozialismus Jüdinnen und Juden vor der Shoah bewahrt haben, in prominenter Weise posthum geehrt und Teil der öffentlichen Erinnerungskultur werden, hat die Stadt Wien nach wie vor trotz vieler neuer Initiativen zu einer kritischen Gedenkkultur eindeutig Nachholbedarf. Wie ist es zu erklären, dass Bouska, Madritsch und Titsch nicht sichtbar durch die Benennung von Wiener Gemeindebauten geehrt werden? Sich hinter formalen Spitzfindigkeiten zu verstecken, entspricht nicht dem klaren antifaschistischen Kurs des Wiener Bürgermeisters Michael Ludwig. Vielleicht bedarf es auch hier eines klaren Machtworts.“

So bleibt zu hoffen, dass dieses Machtwort umgehend gesprochen wird. Hier helfen nur Taten und keine Sonntagsreden, die immer gerne bei Gedenkveranstaltungen aller Art gehalten werden.