Die Erde aus Satellitenperspektive, „Blue Marble“
NASA/Apollo 17 crew
NASA/Apollo 17 crew
Anthropozän

Wo das Menschenzeitalter messbar ist

Der menschliche Einfluss auf die Erde ist so groß, dass Experten seit einiger Zeit dafür plädieren, die Gegenwart als Anthropozän – als Menschenzeitalter – zu bezeichnen. Spätestens mit den Atombombentests in den 1950ern soll das neue Erdzeitalter begonnen haben. Als globalen Referenzpunkt, an dem es geologisch eindeutig nachweisbar ist, schlägt eine internationale Arbeitsgruppe nun einen See in Kanada vor.

Im französischen Lille hat die „Anthropocene Working Group“ (AWG) der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS) nun nach langen Diskussionen jenen Ort bestimmt, an dem sich das menschliche Wirken bereits am besten nachvollziehbar über die Zeit hinweg niedergeschlagen hat. Zur Diskussion standen ursprünglich zwölf Vorschläge für einen solchen global gültigen Haupt-Referenzpunkt („Golden Spike“). Mit im Rennen war auch der Wiener Karlsplatz. Dieser schied aber bereits in einer früheren Abstimmungsrunde aus, wie der in der AWG engagierte Geologe Michael Wagreich von der Universität Wien erklärt.

Kompliziertes Prozedere

Geologen und Geologinnen teilen die Erdgeschichte in Zeitalter ein. Aktuell leben wir im Holozän, das vor knapp 12.000 Jahren nach dem Ende der letzten Eiszeit begann. Traditionell werden solche Erdzeitalter nach Merkmalen von Gesteinsschichten bestimmt, die Methode nennt sich „Stratigraphie“. Die nun auf dem momentan tagenden Internationalen Stratigraphie-Kongress im Norden Frankreichs getroffene Entscheidung für Crawford Lake nahe der Großstadt Toronto als „Golden Spike“ ist für Wagreich aber noch nicht mit der „Ausrufung des Anthropozäns“ gleichzusetzen. Das Prozedere bis dahin ist nämlich recht kompliziert.

So gibt es nach dem nunmehrigen Vorschlag („Proposal“) durch die Arbeitsgruppe noch weitere Abstimmungsrunden. Das letzte Wort hat dann die Internationale Union der Geowissenschaften. Ein „Durchläufer“ sei die Sache keineswegs, denn das Festmachen des Anthropozäns ungefähr ab dem Jahr 1950 sei nicht einfach und werde in der Wissenschaftsgemeinde durchaus kontrovers diskutiert, erklärte Wagreich.

Abgeschotteter Seeboden

Nun konnte Crawford Lake knapp die notwendige Abstimmungshürde von 60 Prozent nehmen, erklärte AWG-Mitglied Colin Waters von der University of Leicester (Großbritannien) im Rahmen eines Pressegesprächs. Mit dem Vorschlag gehe man nun in einen Prozess, der hoffentlich bis August 2024 abgeschlossen sei. Dann wäre das „Zeitalter der Menschen“ auf Schiene.

Analyse von Sedimentsproben
University of Southampton
Analyse von Sedimentsproben

Die Forschung im Crawford Lake wurde federführend von Francine McCarthy von der Brock University (Kanada) vorangetrieben. Der Ort besticht quasi mit zwei schwierig zu vereinbarenden Voraussetzungen: So vermischen sich dort die Wasserschichten nicht und der Seeboden sei mehr oder weniger „vom Rest des Planeten abgeschottet“, sagte McCarthy über den kleinen, rund 24 Meter tiefen See. Gleichzeitig bilden sich in dem Gewässer jährlich Ablagerungen, die trotzdem Rückschlüsse auf den Einfluss des Menschen zulassen.

Das liegt daran, dass der Seegrund aus Kalkgesteinen besteht. Wenn im Sommer die Wassertemperatur steigt, bilden sich dort im Austausch mit Verbindungen, die auf natürliche Weise durch die unvermischte Wassersäule des Sees absinken, Kalzit-Kristalle in denen sozusagen die Information über die Bedingungen in der Außenwelt festgehalten werden, erklärte die Wissenschaftlerin. Für jedes Jahr gibt es eine eigene „weiße Schicht“, die die Geologen lesen können. So sehe man schon den Einfluss indigener Gruppen in der Region im 13. und 15. Jahrhundert und die europäische Kolonialisierung ab dem frühen 19. Jahrhundert.

Atomtests und Beschleunigung

Ganz klar nachweisen lasse sich auch das Radionuklid Plutonium 239 von den oberirdischen Atomtests im „Kalten Krieg“ – also der globale Einfluss des Menschen auf die Geologie. Ebenso sieht man die „Große Beschleunigung“, die in etwa ab dem Jahr 1950 einsetzte, als der Mensch begann das Antlitz des Planeten stärker als je zuvor zu verändern. Alle Kriterien, die die Arbeitsgruppe für diesen Nachweis festgelegt hat, würden in dem kleinen See „wie Dominosteine“ nach dem Jahr 1950 in den jährlichen Schichtungen erkennbar, erklärte McCarthy.

Dass Wien zum „Golden Spike“ werden könnte, war für Wagreich, der seit längerem die „anthropozänen Wellen“ im Untergrund der Hauptstadt untersucht, eher nicht zu erwarten. Der Vorschlag basierte auf Proben, die an der Baustelle für die Neugestaltung des Wien Museums am Karlsplatz gemeinsam mit der Stadtarchäologie genommen wurden.

In den dortigen Stadtsedimenten konnten u.a. Plutonium 239 und 240 von den Atombombentests zwischen 1950 und 1964 nachgewiesen werden. Allerdings liegen die jährlichen Schichtungen dort aufgrund diverser Bauarbeiten nicht mehr ungestört übereinander. „Wir haben dort zwar eine gute Abfolge“, diese ist aber an anderen Orten kontinuierlicher gegeben, erklärte Wagreich. Trotzdem bleibt der Karlsplatz einer der Referenzpunkte für das Anthropozän.