Golfstrom NASA Meeresoberflächenströmungen
NASA Scientific Visualization Studio
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Klimaerwärmung

Umstrittene Studie: Baldiger Kollaps des Golfstroms

Die Klimaerwärmung wirkt sich auch auf die Strömungen der Meere aus – etwa auf den Golfstrom, der Nordeuropa mit milden Temperaturen versorgt. Laut einer neuen Studie könnte er bereits in diesem Jahrhundert zusammenbrechen. Doch in Fachkreisen werden die Ergebnisse stark infrage gestellt.

Die Unsicherheiten seien demnach zu groß, um so genaue zeitliche Eingrenzungen zu liefern – das sei reine Spekulation. Zwar sei der neue Ansatz interessant und solide gerechnet, die Schlussfolgerungen der Studie seien jedoch unhaltbar.

„Day After Tomorrow“-Szenario

Es ist das „The Day After Tomorrow“-Szenario: Nachdem der Golfstrom zum Erliegen kommt, versinkt New York in kürzester Zeit in Eis und Schnee. Die Filmvariante wird sich in Wirklichkeit vermutlich nie abspielen, die zugrundeliegende Idee ist ihr aber gar nicht so fern. Die Atlantische Umwälzzirkulation (AMOC) – das atlantische Strömungssystem, zu dem auch der Golfstrom gehört – wird zunehmend schwächer.

Im Prinzip funktioniert das Strömungssystem wie eine große Wärmepumpe, die warmes Wasser aus den Tropen an der Meeresoberfläche Richtung Norden transportiert – und damit u. a. für mildes Klima in Europa sorgt. Im Gegenzug zieht es in den Tiefen kaltes Wasser nach Süden. Als Motor der Strömung dient das Absinken kalter Wassermassen in der Grönlandsee.

Bei AMOC handelt es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um ein System mit einem Kipppunkt. „So ein System hat zwei stabile Zustände, eingeschaltet oder ausgeschaltet“, sagt Susanne Ditlevsen, Statistikerin an der Universität Kopenhagen und Autorin der neuen Studie, gegenüber science.ORF.at. Wird der Kipppunkt überschritten, gebe es kein Zurück mehr.

Folgen: Kälter in Europa

Die Folgen eines kompletten Wegfalls von AMOC sähen wohl nicht so aus wie von Hollywood prognostiziert, wären aber dennoch fatal: In Nordeuropa könnte man sich auf Verhältnisse wie derzeit in Alaska einstellen. Während es in unseren Breiten deutlich kälter würde, würde sich die Hitze in den Tropen stauen. Die so entstehenden Temperaturunterschiede würden zunehmend Stürme verursachen, Extremwetterereignisse würden wahrscheinlicher. Auch das tropische Regenband könnte sich verschieben, was die Landwirtschaft in weiten Teilen Afrikas und Asiens bedrohen würde.

Der Treiber dahinter ist die Schmelze von grönländischem Eis – Süßwasser, das die Dichte der Wassermassen in der Grönlandsee verringert und so den Motor der Strömung drosselt. Diese Schmelze wird laut Fachleuten auch unter moderaten Klimawandelszenarien von plus 1,5 Grad Celsius zunehmen.

Abgebrochener Eisberg vor Grönland
AFP – JONATHAN NACKSTRAND

Studie widerspricht IPCC

Im jüngsten Synthesebericht von 2023 des Weltklimarats (IPCC) heißt es, der Zusammenbruch des AMOC innerhalb des 21. Jahrhunderts sei unwahrscheinlich, ein bedeutendes Abschwächen jedoch denkbar. Dem widerspricht nun die neue, soeben in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ erschienene Studie und liefert sogar einen sehr konkreten Zeitraum. „Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit“ komme die Strömung „im Zeitraum von 2025 bis 2095“ zum Erliegen, schreiben Susanne Ditlevsen und ihr Bruder Peter Ditlevsen, Klimatologe an der Universität Kopenhagen.

„Wir wollen auf keinen Fall den IPCC kritisieren“, so Susanne Ditlevsen, „er arbeitet einfach in einer anderen Weise, nämlich mit dem Durchschnitt vieler verschiedener Modelle. Diese stimmen alle darin überein, dass es einen Kipppunkt gibt, aber sie sind sich nicht einig, wann.“

Einfaches Modell, …

Üblicherweise versucht die Klimaforschung, möglichst viele Parameter in ein Modell einfließen zu lassen. In ihrem Ansatz könne diese Komplexität reduziert werden, sagt die Statistikerin. „Unsere Idee ist es, sich nur das Wesentliche der Dynamik anzuschauen – unser Modell ist viel einfacher, was es, glaube ich, robuster macht“, so Ditlevsen.

Zwei Annahmen liegen der Studie zugrunde: einerseits, dass die durchschnittliche globale Erwärmung mit der heutigen Rate weitergeht, und andererseits, dass es tatsächlich einen Kipppunkt gibt, der den totalen Ausfall der Strömung zur Folge hat. Und schon daran scheiden sich die Geister. Die verwendete Methode „erlaubt gar nicht, dass das System nicht kippen könnte“, kritisiert etwa Niklas Boers, Professor für Erdsystemmodellierung an der Technischen Universität München. „Wendet man die Methode der Autoren auf ein System an, das gar nicht kippen kann, ergibt sich trotzdem ein Kippzeitpunkt.“

… das kritisiert wird

Die Hauptkritik von ihm und anderen Fachkolleginnen und Fachkollegen: Das vereinfachte Modell der Geschwister Ditlevsen werde der Komplexität des Strömungs- und Klimasystems nicht gerecht. Da die AMOC-Strömung schwierig zu messen ist, – ein direktes Monitoring gibt es erst seit 2004 – verwendeten sie Stellvertreterdaten; konkret Aufzeichnungen der Oberflächentemperatur im Nordatlantik. Diese gehen bis 1870 zurück und gelten unter Fachleuten als gute Näherung für die Stärke der AMOC. Daraus errechneten die Ditlevsens die umstrittene Schätzung. „Diese Daten deuten zwar darauf hin, dass sich AMOC in den vergangen 70 Jahren abgeschwächt hat“, sagt Levke Caesar, Klimaphysikerin an der Universität Bremen. „Sie sind aber noch nicht ausreichend perfektioniert und getestet, um zuverlässige Aussagen über die Zukunft der AMOC machen zu können.“

Aufgewühlte Meeresoberfläche, darüber Gewitterwolken
© Henrik Egede-Lassen www.zoomedia.dk

Gängige Klimamodelle würden allesamt eine Abschwächung der AMOC über den Verlauf des 21. Jahrhunderts zeigen, wobei das genaue Ausmaß auch von der Menge der zukünftigen Kohlenstoffdioxidemissionen abhänge. „Es gibt nur sehr, sehr wenige Modelle, die einen Zusammenbruch der AMOC vor 2100 simulieren. Deshalb sind wir relativ sicher, dass die Wahrscheinlichkeit dafür gering ist“, so Levke.

Dringlichkeit klar

Das Geschwisterpaar Ditlevsen räumt ein, dass die Strömung auch „nur teilweise zusammenbrechen“ könnte, was weniger drastische Folgen hätte. Das wird in ihrer aktuellen Studie aber nicht berücksichtigt. „Meine Befürchtung ist, dass die Studie an manchen Stellen nicht sorgfältig genug ist. Aber eine inhaltliche Kontroverse sorgt sicherlich für bessere Forschung“, sagt Gerrit Lohmann, Klimaforscher am Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.

Von einzelnen Studien könne man generell nur begrenzte Beweise erwarten, so Klimaforscher und Ozeanograf Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. „Es besteht immer noch große Unsicherheit darüber, wo der Kipppunkt der AMOC liegt. Aber die neue Studie ergänzt Evidenz dafür, dass er viel näher ist, als wir noch vor ein paar Jahren dachten“, kommentiert er die neuen Ergebnisse.

Worin sich die Fachleute einig sind: Die Treibhausgasemissionen, die den Klimawandel vorantreiben und damit unter anderem dieses Strömungssystem stören, müssen sinken.