Belverdere entgletscherte Fläche und das Mont Blanc Massiv
Jean-baptiste Bosson, AsterCEN74
Jean-baptiste Bosson, AsterCEN74
Gletscherrückgang

Neue Ökosysteme mit Potenzial

Bis Ende des Jahrhunderts werden laut einer neuen Studie 20 bis 50 Prozent der Gletscherflächen weltweit schmelzen. Tier- und Pflanzenarten, die an das vermeintlich ewige Eis angepasst sind, sind dadurch bedroht. Die Gletscherschmelze macht aber auch neue Ökosysteme frei, die für manche Arten Chancen bieten.

Die Studie, die soeben in der Fachzeitschrift „Nature“ erschienen ist, liefert nach Eigenangaben die bisher genauesten Prognosen des künftigen Gletscherschwundes. Sie umfasst zwei Drittel aller Gletscher weltweit, nur jene der antarktischen und grönländischen Eisschilde fehlen.

Maximaler Gletscherverlust von Fläche Deutschlands

Ein Forschungsteam aus Frankreich und der Schweiz berechnete den weltweiten Verlust an Gletscherfläche bis 2100. Dafür fütterte es ein Gletschermodell mit Daten zum Klima, zur Oberflächenbeschaffenheit und zu heutigen Gletschergrenzen. Das Ergebnis: Bis 2040 verlaufen die Schmelzprojektionen unabhängig von den Treibhausgas-Emissionen sehr ähnlich – danach hängt der Rückgang der Gletscherflächen direkt von ihnen ab.

Bei Null-Emissionen bis zur Mitte des Jahrhunderts – dem sehr optimistischen Szenario – könnte der Gletscherrückgang auf 150.000 Quadratkilometer eingedämmt werden, das entspricht ungefähr der doppelten Fläche Österreichs. Im höchsten Emissionsszenario des Weltklimarats, also bei einer Erwärmung um rund viereinhalb Grad Celsius, könnten bis Ende des Jahrhunderts sogar 340.000 Quadratkilometer Gletschereis verschwinden – in etwa die Fläche Deutschlands. Damit wäre die Hälfte der gegenwärtigen Gletscherfläche verloren – in Zentraleuropa inklusive Österreich sogar 95 Prozent.

Rückzugsorte für manche Arten

Für viele Lebewesen bedeutet das große Schmelzen einen drastischen Habitatverlust. Etwa eine Steinfliege mit dem klingenden Namen Andiperla willinki, die mithilfe eines eigenen Frostschutzmittels im Eis leben kann, ist davon betroffen. In den heimischen Alpen etwa betrifft das viele Wirbellose wie Steinfliegen oder Plattwürmer, die eine wichtige Nahrungsgrundlage für höhere Tiere – Fische, Vögel, Säugetiere – darstellen. Insgesamt sind die vom Eis befreiten Flächen für die Natur jedoch keinesfalls verloren: Auf großen Zeitskalen – bis zu Jahrtausenden – werden sich dort neue Ökosysteme bilden. In der Studie modellieren die Fachleute, auf welche klimatischen Bedingungen sich das Leben da einstellen müssen wird.

Im gletscherbefreiten Grönland, arktischen Kanada sowie asiatischen Bergland wird es demnach kalt bleiben, mit Jahresdurchschnittstemperaturen zwischen minus 20 und 0 Grad Celsius. Laut der Arbeit könnten die Gegenden mit solchen Bedingungen den Pflanzen und Tieren, die Kälte brauchen, künftig als Rückzugsorte dienen. Zum Beispiel könnte der bedrohte pazifische Lachs in diese Gebiete ziehen, weil es ihm klimawandelbedingt anderorts zu warm wird. Jedenfalls könnte der Anteil nicht-einheimischer Lebewesen zunehmen.

Potenzial als Kohlenstoffsenken

In den künftig verlorenen Gletscherflächen Islands, Neuseelands und der Anden wird es hingegen laut der Forschungsarbeit bedeutend wärmer sein, die Temperaturen sollen im Mittel teils in die zweistelligen Plusgrade wandern. Dieses milde Klima würde es Pionierpflanzen – den Erstbesiedlern – und Arten mit niedrigen Ansprüchen erlauben, sich zu etablieren. In „entgletscherten“ Gebieten unter der Baumgrenze, wie es sie beispielsweise in Neuseeland geben wird, könnten sich relativ schnell Wälder ausbilden – was laut Studie Teile der Entwaldung in anderen Regionen der Erde ausgleichen könnte.

Pionierpflanze (Blume) nach Gletscherrückzug am Mont Blanc
Jean-baptiste Bosson, AsterCEN74
Pionierpflanze (Blume) nach Gletscherrückzug am Mont Blanc

Die freiwerdenden Böden werden ihr zufolge vermutlich auch als Kohlenstoffsenken dienen. Bei den natürlichen Prozessen, die nach der Schmelze eintreten, wird Kohlenstoff gebunden, z.B. bei der Bodenbildung, der Anhäufung von Sediment in Gewässern und auch beim Wachstum von Pflanzen. Die Fachleute schätzen das Speicherpotenzial der Böden auf rund 65 Millionen Tonnen Kohlenstoff – das entspricht ca. 10.000 Quadratkilometern Regenwald, in etwa so viel wie jedes Jahr allein im Amazonasgebiet zerstört wird.

Schutz der Gletschergebiete entscheidend

Sie plädieren sowohl für den größtmöglichen Schutz bestehender Gletscher als auch für jenen der künftigen postglazialen Gebiete, damit ihr Potenzial genutzt werden und die Natur ihren Rückzugsort bekommen kann. Lediglich 30 Prozent davon stehen derzeit weltweit unter Naturschutz. Da diese Regionen bisher noch nicht von menschlicher Infrastruktur durchzogen sind, sei der Schutz verhältnismäßig einfach und kostengünstig.

Die Fachleute warnen vor nicht-nachhaltigen Nutzungen, sollten die Gegenden wirtschaftlich entdeckt werden – etwa für Skigebiete oder den Bergbau. „Die meisten Ökosysteme werden über deren Kapazitäten hinausgehend genutzt. Der Schutz dieser Gemeinschaftsgüter ist dringend, um unumkehrbare Schäden zu vermeiden“, heißt es in der Studie. In dem Sinne haben die Vereinten Nationen 2025 zum Internationalen Jahr des Gletscherschutzes erklärt.