Forscherin mit Kopftuch im Labor
SESAME
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Nahost

Forschung als Friedensprojekt

Während die Lage im Gazastreifen immer weiter zu eskalieren droht, arbeiten nur 150 Kilometer entfernt in Jordanien Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Israel, Palästina und dem Iran einträchtig zusammen: am Teilchenbeschleuniger SESAME, einem Friedensprojekt des Nahen Ostens.

“Synchrotron-light for Experimental Science and Applications in the Middle East" heißt die Anlage offiziell. Daraus ergibt sich das hübsche Akronym SESAME – es gleicht nicht von ungefähr jenem Losungswort, das Ali Baba Zugang zu einer sagenhaften Schatzkammer verschaffte. Wenngleich die Schätze, die es hier zu heben gilt, ideeller Natur sind.

Das Forschungszentrum in den Hügeln von al-Balka, rund 35 Kilometer nördlich von Amman, wird wegen des dort aufgebauten Teilchenbeschleunigers auch als „CERN des Nahen Ostens“ bezeichnet. Das ist nicht die einzige Parallele zur Großforschungsanlage in der Nähe von Genf. Denn so wie das CERN in den 1950er Jahren explizit darauf angelegt war, die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu einen, zumindest wissenschaftlich, hatte auch SESAME seit seiner Gründung „den Status eines Friedensprojekts“, sagt Andrea Lausi, der wissenschaftliche Direktor von SESAME. Dass die Lage nun im Nachbarland immer weiter zu eskalieren drohe, sei für ihn und seine Belegschaft „beängstigend“.

Materialforschung mit Licht

2017 wurde die Anlage eröffnet, neben Forschern und Forscherinnen aus Israel, Palästina und dem Iran sind noch eine Reihe weiterer Nationen aus der Region beteiligt, etwa Ägypten, Jordanien und die Türkei. Sowie, als teilnehmende „Beobachter“, halb Europa und die USA.

Jodaniens König Abdullah II. bin al-Hussein zieht einen Vorhang auf die Seite – dahinter ein Schild des Forschungszentrums SESAME.
AFP
SESAME öffne dich: Jordaniens König bei der feierlichen Eröffnung des Forschungszentrums

SESAME ist ein Zentrum der Materialforschung. Die im Elektronensynchrotron beschleunigten Teilchen erzeugen elektromagnetische Strahlung in allen Frequenzbereichen – und diese wird verwendet, um Materialien aller Art zu durchleuchten. Das können archäologische Artefakte oder Gewebsproben von Lebewesen sein .

Oder auch Materialien für technische Anwendungen: Für Aufsehen hat etwa eine Studie aus dem letzten Jahr gesorgt, als es jordanischen Forschern gelang, aus metallorganischen Verbindungen eine Art Schwamm herzustellen, der Wasser aus Luft gewinnt. Ein Fortschritt, der für „ein so extrem trockenes Land wie Jordanien von entscheidender Bedeutung ist“, sagt Lausi. Das kann auch der deutsche Vertreter im SEASME-Council, Wolfgang Eberhardt, bestätigen. Die Forschung sei zwar mitunter durch die Mittel limitiert, „aber das, was gemacht wird, ist wirklich first class“.

„Die Konflikte bleiben draußen“

Andrea Lausi erweist sich im Ö1-Interview bei wissenschaftlichen Fragen als ausgesprochen auskunftsfreudig. Was den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern betrifft, sind ihm außer Sorge indes nur wenige Kommentare zu entlocken.

Das Bekenntnis zum Miteinander sehe er jedenfalls nicht in Gefahr, Fronten innerhalb der kleinen Forschungsgemeinde hätten sich keine gebildet, betont er. „Wir haben es immer geschafft, die Konflikte außerhalb der Gemäuer dieses Gebäudes zu lassen. Was wir bei SESAME tun, ist Wissenschaft. Wenn wir das Labor betreten, dann sind wir genau das: Wissenschaftler. Die sogenannten Brüche in der Region beschäftigen uns nicht.“

Wolfgang Eberhardt beschreibt die Situation so: „Es war für mich erfreulich zu sehen, dass hier Israeli, Palästinenser und Iraner an einem Tisch sitzen und nach Lösungen suchen. Natürlich haben die jüngsten Ereignisse uns alle schockiert. Zumindest hatten wir seit dem 7. Oktober schon eine gemeinsame Videokonferenz.“

Außenposten im globalen Süden

Dass man sich im Rahmen von SESAME bemüht, Polaritäten jeder Art zu überwinden, zeigt sich auch an der geografischen Lage. Anlagen wie diese gibt es weltweit Dutzende, insgesamt sind es wohl rund 50 Stück. Sie stehen in wohlhabenden Ländern, in Europa, den USA und Ostasien. Darüber hinaus gibt es noch eine in Südamerika, Brasilien, und eine in Singapur. Doch der globale Süden scheint in dieser Liste nicht auf. Umso wichtiger sei es, dass es mit SESAME zumindest eine Anlage gibt, die auf dem Boden eines ressourcenarmen Landes wie Jordanien stehe, sagt Lausi. „Wir können es uns einfach nicht leisten, auf die Ideen der halben Welt zu verzichten.“

Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle ein Vorfall bleiben, der sich sieben Jahre vor Öffnung des Forschungszentrums ereignet hat. 2010 wurden zwei iranische Physiker, die auch Vorarbeiten für SESAME geleistet hatten, auf offener Straße ermordet. Die Hintergründe sind bis heute unklar, der Iran beschuldigt den israelischen Geheimdienst, Israel wiederum behauptet, hier seien politisch Missliebige vom iranischen Regime beseitigt worden.

Sicher ist jedenfalls: Selbst diese Enklave der Wissenschaft hat ihren inneren Frieden nur dann, wenn sie von den Mächten da draußen weiterhin geduldet wird. Dessen ist sich auch Andrea Lausi bewusst. Momentan sei die Situation ruhig. „Aber was nächste Woche sein wird, weiß ich nicht.“