Polizeiabsperrungen vor dem jüdischen Teil des Zentralfriedhofs, auf den ein Brandanschlag verübt wurde
ALEX HALADA / picturedesk.com
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Antisemitismus

Links, rechts, muslimisch vereint

Ein Brandanschlag auf einen Friedhof, Schmierereien an Unis, Auslöschungsfantasien auf Demos: Der Antisemitismus wächst auch in Österreich. Dass rechter, linker und muslimisch geprägter Antisemitismus dabei Hand in Hand gehen, wundert die Historikerin Isolde Vogel nicht. Im ORF-Interview skizziert sie die gemeinsamen Wurzeln und gibt Hinweise, was man dagegen tun könnte.

science.ORF.at: Die Gretchenfrage gleich zu Beginn: Wenn man heute in Österreich die durch das Hamas-Massaker ausgelöste Gaza-Offensive Israels kritisiert, ist das bereits antisemitisch?

Isolde Vogel: Nein, das ist nicht grundsätzlich antisemitisch. Es ist aber die Frage, mit welchen Vorannahmen man das tut. Oft geht es dann nicht um die eigentlichen militärischen Vorgänge, sondern es wird relativ plump alles über einen Kamm geschoren und sehr viel weggelassen. In der Debatte kursieren online gerade wahnsinnig viele Fake News, die Verbrechen leugnen oder relativieren, die von der Hamas selbst dokumentiert wurden. Und das ist antisemitisch.

Gibt es so etwas wie eine einfache Unterscheidung, bis wohin Kritik an Israel legitim ist und ab wann sie antisemitisch wird?

Isolde Vogel ist Historikerin, Antisemitismusforscherin und assoziierte Mitarbeiterin des Instituts für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Vogel: Es gibt etwa den sehr eingängigen 3-D-Test für israelbezogenen Antisemitismus: Das erste D steht für „Delegitimierung“, also die Infragestellung des Existenzrechts Israels; das zweite D steht für „Doppelstandard“ – also, wenn Kriterien und Maßstäbe nur dann geltend gemacht werden, wenn sie sich auf Israel beziehen; und das dritte für eine „Dämonisierung“, die in Israel das absolut Böse sieht und Israelis, aber auch Jüdinnen und Juden auch außerhalb Israels entmenschlicht. Heute muss man noch ein viertes D ergänzen, das für „Derealisierung“ steht, also die massenhafte Verbreitung von Falschnachrichten über Israel.

Seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober ist fast ein Monat vergangen. Zu Beginn gab es viele Mitgefühls- und Solidaritätsbekundungen, das ist recht schnell umgeschlagen, die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt. Hat Sie irgendetwas überrascht an dieser Dynamik?

Vogel: Also abgesehen vom Massaker selbst, das mich natürlich überrascht und schockiert hat: Die politischen Reaktionen und die Enthemmung des Antisemitismus fand ich nicht unbedingt überraschend. Sehr wohl aber das Ausmaß. Was etwa auf dem Flughafen in Dagestan passiert ist, war pogromartig – und schockierend. Wenig überraschend, aber doch immer noch schockierend war auch, wie die UNO auf das Geschehen reagiert hat – indem sie es abtut als einen Konflikt wie jeder andere, der in beiderseitigem Zutun passiert sei, und den Terrorismus unter den Tisch fallen lässt.

In Ländern wie Österreich kommen drei Arten von Antisemitismus zusammen: der traditionell christliche und später rassistische, der migrantisch und islamisch geprägte und dann jener von Linksradikalen. Würden Sie das auch so unterscheiden?

Vogel: Nein, denn inhaltlich sind sie alle sehr ähnlich. Sie beziehen sich auf die gleichen Denkmuster, verwenden die gleichen Argumente, auch wenn sich Wording und politische Motivation unterscheiden. Sie hängen alle zusammen: der christliche Antijudaismus, der seit mehreren Jahrhunderten in Europa existierte, der islamische Antisemitismus, der auch religiös motiviert war, und der moderne Antisemitismus seit dem 19. Jahrhundert, der Ausdruck und Ideologie von Judenhass verändert hat. Den Letzteren teilen heute alle Akteure und Akteurinnen des antisemitischen Spektrums: ein verschwörungsmythisches Denken, dem zufolge Jüdinnen und Juden, parallel dazu Israel, das absolut Böse sind, die Welt, die Kriege, die Medien kontrollieren würden.

,,Mahnwache für Palästina" von der Organisation BDS Austria am Stephansplatz in Wien am 11. Oktober 2023, vier Tage nach dem Hamas-Massaker
APA/TOBIAS STEINMAURER
„Mahnwache für Palästina“ auf dem Stephansplatz in Wien am 11. Oktober, vier Tage nach dem Hamas-Massaker

Also würden Sie analytisch auch nicht zwischen einem autochthonen und einem importierten Antisemitismus unterscheiden, wie das oft genannt wird?

Vogel: Wenn man sich politisch-behördlich dem Kampf gegen Antisemitismus widmet, ist es natürlich sinnvoll zu unterscheiden, wer die Täter und Täterinnen sind. Laut Studien gibt es unter muslimischen Jugendlichen etwa mehr Zustimmung zu antisemitischen Aussagen. Und es ist natürlich wichtig, in diese Sphären einzuwirken. Ich bin selbst nicht in Präventionsarbeit tätig, sondern beschäftige mich mit der Ideologie des Antisemitismus, und aus dieser Sicht ist die Intention antisemitischer Aussagen oder Identität der Täter nicht relevant. Da scheiden sich in der Forschung allerdings die Geister: Einige behaupten, dass Antisemitismus immer zu kontextualisieren und nur zu verstehen ist, wenn man die Perspektive kennt, aus der jemand spricht. Das ist eine Position, die Antisemitismus potenziell legitimiert, wenn Menschen etwa aus dem arabischen Raum stammen oder familiär betroffen sind. Analytisch halte ich das für nicht sinnvoll und zudem für kulturrelativistisch.

Die Geister scheiden sich in der Forschung schon bei der Definition von Antisemitismus: Seit einigen Jahren gibt es neben der Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance auch die sogenannte Jerusalemer Erklärung, die v. a. den Unterschied von Antisemitismus und Antizionismus betont – der Konflikt existiert also auch in den Wissenschaften …

Vogel: Es gibt unterschiedliche Positionen v. a. in den Kulturwissenschaften, das stimmt. Aber in der Antisemitismusforschung selbst erweisen sich eigentlich nur allgemeine Definitionen als sinnvoll, ohne auf die Intention, wie also der Antisemitismus gemeint sei, einzugehen. Auf die Forschung zu Antisemitismus hat diese Debatte keinen großen Einfluss, eher auf Theoriedisziplinen der Kulturwissenschaft, das politische Feld und damit auch die Öffentlichkeit. Bemerkenswert ist das allerdings schon, denn die Auseinandersetzung führt mitunter auch zu einer Verschiebung der Diskussion auf die Frage, wie falsche Verdächtigungen zu entlarven seien, als dass sie den weltweit steigenden Antisemitismus kritisieren.

Auch wenn Sie das analytisch nicht so trennen wollen: Viele Menschen sind aktuell vom linken Antisemitismus am meisten überrascht, Sie auch?

Vogel: Nun, die Geschichte zeigt, dass auch sich links und liberal verstehende Menschen sehr stark an diese Ideen anknüpfen können. Es ist aber natürlich extrem, wenn das quasi ohne Wimpernzucken und mit massiver Zustimmung in linken Kreisen nach dem größten Verbrechen an Jüdinnen und Juden seit der Schoah geschieht.

Können Sie diese Geschichte kurz skizzieren?

Vogel: Ich denke, da muss man zurückgehen auf die Frage, was Antisemitismus als Weltanschauung überhaupt ist: Antisemitismus ist eine simplifizierende Welterklärung. Es gibt eigentlich nur Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß. Das hängt mit der Zeit, in der dieser moderne Antisemitismus entstanden ist, zusammen. Die Krisen, Probleme und Umwälzungen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren komplex und verunsichernd und warfen viele Fragen auf, auf die der Antisemitismus eine einfache Antwort bot. Wenn an allem „der Jude“ schuld ist, der im Hintergrund die Fäden zieht, dann ist die Welt auch wieder in Ordnung. Im Antisemitismus gibt es diesen konkreten Feind, der angegriffen werden kann – und in letzter Konsequenz vernichtet werden muss, so wie wir es im Nationalsozialismus gesehen haben.

Wie passt das zu einer linken Weltsicht?

Vogel: Auch im linken Denken, besonders im Antiimperialismus, gibt es die Vorstellung einer Welt, die nur aus Gut und Böse besteht. Auf der einen Seite die Herrschenden und Unterdrücker, auf der anderen Seite die Beherrschten und Unterdrückten. Die Ersten sind immer die Bösen, die Zweiten immer die Guten. Mit so einem Weltbild kann man blind dafür werden, dass diese vermeintlich Unterdrückten und Schwachen auch islamistische Terroranschläge verüben können – etwa gegen einen Staat, den man als das Böse schlechthin klassifiziert hat. Dass dies der jüdische Staat ist, der nach den Verbrechen des Nationalsozialismus als einziger Ort der Welt entstanden ist, an dem Jüdinnen und Juden Schutz finden können – diese Widersprüchlichkeit wird nicht anerkannt. Aus der postkolonialen Theorie kommt noch die Perspektive dazu, dass man den vermeintlich Unterdrückten immer mehr Glauben schenken muss als den „Unterdrückern“. Aus einer außenstehenden Perspektive dürfe man nicht mehr werten, ob Inhalt und Form des Widerstands überhaupt zu befürworten sind, die Unterdrückten stehen quasi für das absolut Gute und sind in diesem Sinne auch gar nicht mehr zu kritisieren.

Der Vorraum der Zeremonienhalle im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs ist nach einem Brandanschlag 1.11.23 ausgebrannt
APA/ISRAELITISCHE KULTUSGEMEINDE
Der Vorraum der Zeremonienhalle im jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs ist nach einem Brandanschlag am 1. November ausgebrannt

Schon in den 70er Jahren haben Linksradikale mit Palästinensern kooperiert, gegen Juden und Jüdinnen gekämpft und in der Eigenwahrnehmung zugleich gegen Faschismus – wie geht das zusammen?

Vogel: Es ist ein Gehirnspagat – aus einer emanzipatorischen Tradition zu kommen und dann mit Menschen Bünde schließen, die ganz offen frauenverachtend, antisemitisch und antiaufklärerisch sind. Das gilt auch für diese Sprüche, die zuletzt auf dem Campus der Universität Wien aufgetaucht sind: „Free Palestine from Austrian guilt“ analog zu „from German guilt“. Diese Idee eines deutsch-österreichischen „Schuldkults“, von dem man sich befreien müsse, kennt man aus der politischen Rechten und sie wird dort ganz offen vor sich hergetragen, ist aber auch in der Mitte der Gesellschaft vertreten. Die Linke schließt jetzt daran an, und das zeigt auch, wie viele Parallelen es bis hin zum schuldabwehrenden Antisemitismus gibt und wie einfach manche antisemitische Argumentationsweisen sind.

Was Nazis mit der Hamas verbindet, ist die Idee der „Problemlösung“ – also Juden und Jüdinnen bzw. Israel auszulöschen. Eine apokalyptische Frage: Gäbe es dann keinen Antisemitismus mehr?

Vogel: Nein, so funktioniert der Antisemitismus nicht. Es gibt von Paul Lendvai die Beschreibung des „Antisemitismus ohne Juden“. Antisemitismus gibt es auch, wenn der „jüdische Feind“ gar nicht anwesend ist – denken wir an Europa nach 1945, wo es nur mehr sehr wenig jüdisches Leben gab. Der Antisemitismus erfüllt schließlich die Funktion der Welterklärung, die ja nicht auf der Realität, sondern auf einem Mythos basiert. Und auch das Elend im Nahen Osten, das Elend, das die Hamas selbst mitproduziert hat, endet nicht mit dem dystopischen Szenario einer Auslöschung Israels. Ich weiß gar nicht, wie stark ich darüber nachdenken will, und glaube auch nicht, dass das irgendwann eintreten wird. Aber vielleicht zeigt ein Blick in den Iran, wie so etwas aussehen könnte – ein Land, in dem Antisemitismus massiv propagiert wird, in dem aber kaum Jüdinnen und Juden leben. Das betrifft auch andere Länder der arabischen Welt wie Ägypten, Libanon und Jordanien, aus denen fast alle Jüdinnen und Juden vertrieben wurden. Auch dort grassiert der Antisemitismus, dort sind die „Protokolle der Weisen von Zion“, ein antisemitisches Hetzblatt, hoch aufgelegt. Also es lässt sich auch faktisch nachweisen, dass Antisemitismus und Judenhass nicht verschwinden, wenn es keine Jüdinnen und Juden mehr gibt – auch dann nicht, wenn sie Zionisten oder Israelis genannt werden, was im Grunde das Gleiche meint.

Zurück zu Österreich: Wir hatten jetzt antisemitische Schmierereien, ein jüdischer Friedhof wurde angezündet, die Sicherheitsmaßnahmen müssen überall verstärkt werden. Was kann man dem wachsenden Antisemitismus entgegenstellen?

Vogel: Ich glaube, es ist sehr wichtig, darüber differenziert zu sprechen, auch dann, wenn das Thema nicht so akut ist wie jetzt. Es wäre wichtig, ein Denken anzuregen, das die Weltgeschehnisse als komplex begreifen lässt und dass nicht alles einfach erklärt werden kann. Ganz besonders gilt das für die Schulen. Ich kenne Berichte von Lehrkräften, die gerne das Thema Antisemitismus im Schulunterricht auch abseits des Holocaust thematisieren würden, was wirklich wichtig wäre. Aber die Hemmschwelle, sich mit dem Nahen Osten, Israel und israelbezogenem Antisemitismus zu befassen, ist sehr groß. Das ist ein heikles Thema, zu dem auch sehr viele junge Menschen schon eine Meinung haben, die natürlich auch Lehrkräfte in Bedrängnis bringen können. Vielleicht braucht es da mehr Schulungen, dass Lehrkräfte mehr Selbstbewusstsein haben und zudem auch sich selbst israelbezogener antisemitischer Argumentationsmuster bewusst werden. Andererseits: Es gibt Materialien, auf die man zurückgreifen kann – etwa Erinnern.at, eine Plattform, auf der es auch Lehrmaterial zu israelbezogenem Antisemitismus gibt. Und auch außerhalb der Schule gilt: Wir alle sind in der Verantwortung, wenn wir Antisemitismus beobachten, einzuschreiten. Natürlich, die Lage ist komplex, man muss aber auch nicht Expertin oder Experte für die Geschichte des jüdischen Staates sein, um Antisemitismus zu erkennen und dem entgegenzutreten.

Teilnehmer anl. des Lichtermeers der Initiative #YesWeCare für die Freilassung israelischer Geiseln und gegen Antisemitismus, Terror, Gewalt und Hass, am Donnerstag, 2. November 2023, in Wien.
APA/EVA MANHART
Teilnehmer des Lichtermeers für die Freilassung israelischer Geiseln und gegen Antisemitismus am 2. November auf dem Wiener Heldenplatz

Braucht es auch noch andere Dinge, neue Gesetze oder andere Aufnahmebedingungen für Asylsuchende, wie es derzeit diskutiert wird?

Vogel: Man kann es sich nicht so einfach machen im Kampf gegen Antisemitismus, dass man all jene, die sich antisemitisch geäußert haben, abschiebt – und dann ist man das Problem los. Vor allem geht es an der Realität vorbei, Antisemitismus als Problem „der Ausländer“ abzutun. Wir hatten zuletzt in der Covid-Pandemie einen extremen Anstieg an Antisemitismus, der nicht von Menschen mit Migrationsgeschichte vorgebracht wurde. Wir müssen uns als Gesellschaft und auch wissenschaftlich mit diesen Themen fortlaufend befassen. Es gibt genug Antisemitismus, der so stark verklausuliert daherkommt, dass er nicht einfach zu erkennen ist – da braucht es fortlaufend Aufklärungsarbeit. Außerdem haben wir auch keinen Vorteil davon, wenn wir den Antisemitismus in ein anderes Gebiet der Welt verbannen würden, denn Israel ist so gesehen ja auch in einem anderen Teil der Welt.

Was würden Sie sich von der Politik wünschen?

Vogel: Ich denke, es ist wichtig, dass die geopolitischen Ausmaße des Konflikts begriffen werden und dass die Zusammenhänge – zum Iran, zu Russland, zur Türkei und zu Katar – nicht zu leugnen sind. Politische Lippenbekenntnisse, wie wir sie von den wichtigen Gedenktagen in Österreich kennen, so symbolisch wichtig sie auch sind, reichen nicht. Die Politik sollte auch fortwährend dafür sorgen, dass jüdisches Leben geschützt wird, hier in Österreich, aber auch in Israel. Wenn man sich das als Staat auf die Fahnen schreiben will und den Kampf gegen Antisemitismus ernst meint, dann muss man auch die Komplexität dieser geopolitischen Lage begreifen und nicht nur in die eine Richtung Bekenntnisse geben.