Zwei Frauen in Burka von hinten gehen Richtung Sonnenuntergang
APA/AFP/OMER ABRAR
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Gesellschaft

Dramatische Lage für Frauen in Afghanistan

Seit über zwei Jahren sind in Afghanistan wieder die Taliban an der Macht – mit zahlreichen negativen Folgen. Besonders betroffen sind Frauen, die aus dem gesellschaftlichen Leben nahezu vollständig ausgeschlossen sind. Die Zahl der Fälle häuslicher Gewalt stieg an, öffentliche Proteste wurden rar.

Wie dramatisch die Situation aktuell für Frauen in Afghanistan ist, erzählt die Sozialanthropologin, Zentralasien- und Afghanistan-Expertin Gabriele Rasuly-Paleczek im Interview.

Seit der Machtübernahme der Taliban werden die in den letzten 20 Jahren mühsam errungenen Frauenrechte sukzessive immer weiter eingeschränkt. Sie erhalten Ihre Informationen überwiegend direkt aus Afghanistan und über diverse UNO-Webseiten. Wie sind die humanitäre Lage und die Situation der Frauen in Afghanistan?

Gabriele Rasuly-Paleczek: Die wirtschaftliche Lage vieler Afghaninnen und Afghanen hat sich weiter verschlechtert. Laut UNO-Angaben vom Juni 2023 ist heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung von insgesamt rund 40 Millionen von humanitärer Hilfe abhängig. Mehr als 15 Millionen Menschen sind von akuter Hungersnot bedroht. Gleichzeitig hat die Spendenbereitschaft für Afghanistan deutlich nachgelassen. So musste das World Food Programme seine Nahrungsmittelhilfe deutlich reduzieren und kann derzeit nur eine/n von fünf Afghaninnen und Afghanen, die dringend Hilfe zum Überleben benötigen, unterstützen. Besonders schwierig ist die humanitäre Lage der vielen intern Vertriebenen. Das Erdbeben vom Oktober 2023 hat fast 400.000 Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht. Dazu kommen jetzt auch die rund 400.000 afghanischen Flüchtlinge aus Pakistan.

Wie sieht die Hilfe für die Menschen durch die NGOs aus, wie Ärzte ohne Grenzen, Save the Children, International Rescue Comittee und die UNO-Organisationen?

Sendungshinweis:

Universum History “Burka und Scharia – Afghanistans vergessene Frauen“, zum 75. Jahrestag der Allgemeinen Deklaration der Menschenrechte: 15.12. 2023, 22:35 Uhr, ORF2

Rasuly-Paleczek: Deren Arbeit ist äußerst schwierig. Es fehlen Geldmittel, zum anderen müssen NGOs um ihre Akkreditierung ansuchen und die Zustimmung der Taliban für ihre Projekte einholen. Wegen des Verbots, Frauen zu beschäftigen, stehen viele humanitäre Organisationen vor dem Dilemma, dass sie afghanische Frauen, die dringend humanitäre Hilfe benötigen, nicht oder nur sehr schwer erreichen können. Manche NGOs haben daher ihre Aktivitäten in Afghanistan eingestellt. Vielfach berichten NGOs auch von Inhaftierungen ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bzw. von Druck durch die Taliban, die bestimmen wollen, wer Hilfe erhalten soll und wer nicht.

Frauen sind in vielerlei Hinsicht von Repressionen, Beschneidung ihrer grundlegenden Rechte, Verfolgung und Gewalt betroffen. Was bedeutet die Taliban-Herrschaft für die Frauen im Detail?

Rasuly-Paleczek: Mädchen dürfen ab der 6. Schulstufe keine weiterführenden Schulen oder Universitäten mehr besuchen. Jungen Frauen und Mädchen ist es nur mehr erlaubt, in Begleitung eines männlichen Familienmitgliedes („Mahram“) das Haus zu verlassen, und nur unter Einhaltung strikter Bekleidungsvorschriften, wie der „Burka“. Auch der Besuch öffentlicher Parks, von Sportanlagen, Geschäftsvierteln oder historischen Stätten ist ihnen untersagt. Ihre Berufstätigkeit wurde sehr stark eingeschränkt. Zahlreiche Frauen haben ihre Jobs verloren. Dazu zählen v.a. Richterinnen, Journalistinnen, Beschäftigte bei staatlichen Behörden, Ärztinnen, Lehrerinnen, Mitarbeiterinnen von internationalen Organisationen und NGOs. Mit dem Fehlen von Richterinnen, Polizistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen haben Frauen nun keine Möglichkeit mehr, ihre Rechte einzufordern. Mittlerweile gibt es – bedingt durch die brutalen Übergriffe der Taliban – auch kaum mehr öffentliche Proteste engagierter Frauen gegen die Abschaffung ihrer vormaligen Rechte.

Wie sieht es auf für Frauen auf politischer Ebene aus?

Rasuly-Paleczek: Die von den Taliban verordneten Gesetze haben deutliche Rückschritte beim Empowerment der afghanischen Frauen bewirkt. Die afghanische unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) und das Frauenministerium sowie Frauenhäuser wurden abgeschafft. Anstelle des Frauenministerium wurde das „Ministerium für die Verbreitung von Tugend und Prävention von Laster“ re-etabliert – dieses Ministerium war während der ersten Herrschaftsperiode der Taliban 1996 bis 2001 für unzählige Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Frauen sind aus dem öffentlichen Raum, aus Medien und der Politik größtenteils verschwunden. In den Entscheidungsgremien der Taliban ist keine einzige Frau vertreten. Die Gesetze zum Schutz der Frauen vor Gewalt und Zwangsverheiratung wurden zurückgenommen. Dabei sind die Fälle häuslicher Gewalt in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Laut einem UNO-Bericht sollen neun von zehn Frauen häuslicher Gewalt ausgesetzt sein.

Amnesty International stellt eine düstere Prognose. Demnach verhindert die repressive Politik der Taliban auch eine adäquate Gesundheitsversorgung. Besonders betroffen sind abermals Frauen: Da sie nicht mehr in Gesundheitsberufen arbeiten dürfen, werden sie auch nicht mehr behandelt. Was können Sie zur Gesundheitssituation im Land sagen?

Rasuly-Paleczek: Bis zur erneuten Machtergreifung der Taliban deckten internationale Hilfsgelder 75 Prozent der Kosten des afghanischen Gesundheitswesens. Viele afghanische Ärzte und Ärztinnen sind jedoch ins Ausland geflohen. Wegen der Restriktionen der Taliban können Frauen nur sehr eingeschränkt im Gesundheitswesen arbeiten, z.B. als Hebammen oder Krankenschwestern. Viele Afghanen und Afghaninnen sind mit großen Hürden konfrontiert, wenn sie medizinische Hilfe suchen, die Kosten für Behandlungen, Medikamenten etc. sind hoch. Für Frauen ist es noch schwieriger, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, weil sie ja nur in Begleitung eines männlichen Verwandten das Haus verlassen und nur von Frauen untersucht und behandelt werden dürfen.

Wie wird sich die triste Bildungssituation, vor allem der Ausschluss von Mädchen und Frauen, langfristig auf die Gesellschaft auswirken?

Rasuly-Paleczek: Die Taliban haben begonnen, die Lehrpläne der Schulen in ihrem Sinne zu verändern, westliches Gedankengut zu eliminieren und religiöse Inhalte stärker zu implementieren. Das Berufsverbot für Frauen wirkt sich auch negativ auf die Schulbildung der Buben aus. Vor der Machtergreifung der Taliban war das Gros des afghanischen Lehrpersonals weiblich. Dass Mädchen und junge Frauen keine höheren Schulen und Universitäten mehr besuchen dürfen, hat langfristig schwerwiegende Konsequenzen, da gerade in einer geschlechtersegregierten Gesellschaft in Zukunft kein Fachpersonal mehr für Mädchen und Frauen (z.B. Hebammen und Ärztinnen, Richterinnen etc.) zur Verfügung stehen wird. Bildung von Frauen hat auch einen „Mehrwert“ für Familie und Gesellschaft: Gebildete Frauen haben in der Regel weniger Kinder, können ihre Kinder besser fördern und durch Berufstätigkeit zum Familieneinkommen beitragen.

Afghanische Schulmädchen in Kabul auf dem Weg zur Schule, Afghanistan 1967/68.
ORF/LOOKSfilm/NDR/Dr. Bill Podlich
Vor 50 Jahren sah es in Kabul anders aus: Afghanische Schulmädchen auf dem Weg zur Schule 1967/68

Rund 1,6 Millionen Menschen haben seit August 2021 Afghanistan verlassen, darunter auch viele hochgebildete Frauen. Was bedeutet dieser Braindrain fürs Land?

Rasuly-Paleczek: Das hat dazu geführt, dass heute viele Fachkräfte fehlen – z.B. im medizinischen Bereich, in der Verwaltung und in der Zivilgesellschaft. Zudem waren es meist eher liberal denkende, dem gesellschaftlichen Wandel und dem Empowerment der Frauen gegenüber aufgeschlossene Menschen, die das Land verlassen haben. Damit fehlen zunehmend Personen, die sich für Veränderungen in der afghanischen Gesellschaft einsetzen könnten.

Sie haben private Verbindungen zu Afghanistan. Wie geht es den Verwandten Ihres Ex-Mannes seit der neuerlichen Machtübernahme der Taliban? Wie kann man derzeit Kontakt aufnehmen, und was erzählen sie über die Situation im Land?

Rasuly-Paleczek: Die Sicherheitslage ist jetzt zwar deutlich besser als vor dem August 2021. Allerdings sind jene, und hier vor allem die jungen Frauen, die in den letzten Jahren eine Ausbildung gemacht haben oder studieren konnten, und die früher für internationale NGOs tätig waren, inzwischen arbeitslos. Viele kämpfen mit den Restriktionen der Taliban und sind sehr frustriert, da sie nun wie ihre Mütter, die nie eine Schule besucht hatten, in die Rolle der Hausfrau und Mutter gedrängt werden. Der Kontakt erfolgt in der Regel über WhatsApp, das von den meisten Menschen in Afghanistan als Kommunikationsmittel genutzt wird.

Sie forschen auch über die afghanische Community in Österreich – wie wirkt sich die Lage seit der Machtübernahme der Taliban auf die Migrantinnen und Migranten hier aus?

Rasuly-Paleczek: Die schon zuvor bestehenden Spannungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Ethnien haben sich verstärkt. Insbesondere zwischen den Paschtunen, Paschtuninnen und den Hazara haben sich die Kontakte verschlechtert. Viele der paschtunischen Ethnie sympathisieren eher mit den Taliban, nicht nur weil die meisten Taliban zu dieser Ethnie gehören, sondern auch weil es den Taliban gelungen ist, die seit der Gründung des afghanischen Staates 1747 bestehende politische Dominanz der Paschtunen wieder zu etablieren. Teilweise versuchen hier lebende Afghaninnen und Afghanen auf die Situation von verfolgten Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten aufmerksam zu machen und durch privat organisierte Kleinprojekte Unterstützung in Afghanistan zu leisten.

Durch die aktuellen Konflikte und Kriege ist Afghanistan wieder aus den Schlagzeilen geraten. Was könnte, sollte man hier tun, um zu helfen?

Rasuly-Paleczek: Erstens, in den Medien immer wieder auf die Situation in Afghanistan aufmerksam machen. Zweitens muss die humanitäre Hilfe fortgesetzt werden, vor allem die Unterstützung von Witwen, Erdbebenopfern, erzwungenen Rückkehrern und Rückkehrerinnen aus Pakistan sowie intern Vertriebenen. Drittens muss besonders bedrohten Personen aus der Justiz, den Bereichen Menschenrechten und Journalismus Asyl gewährt werden. Dabei geht es nicht nur um Personen, die sich derzeit vor den Taliban verstecken, sondern auch um jene, die nach der Machtergreifung der Taliban nach Pakistan geflohen sind, und vor kurzem von der pakistanischen Regierung aufgefordert wurden, nach Afghanistan zurückzukehren.