Politiker und Akademiker der Towson University diskutieren über Antisemitismus an US-Colleges, November 2023
AP Photo/Julia Nikhinson
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Erklärungsversuch

Woher der Antisemitismus an den Unis kommt

Seit dem Hamas-Terror und der Reaktion Israels kochen die Emotionen weltweit über, nicht zuletzt auch an den Universitäten. Speziell in den USA zeigt sich ein akademischer Antisemitismus, der sich selbst als antirassistisch und progressiv versteht: Spurensuche und Versuch einer Einordnung.

Dass es einen traditionellen rassistischen und religiösen Antisemitismus gibt, sollte man hierzulande als bekannt voraussetzen. Dass es ihn aber auch von links gibt, ist vielleicht weniger offensichtlich. Dabei hat auch er eine lange Tradition. Manche meinen, dass schon Karl Marx‘ Werk “Zur Judenfrage“ von 1844 antisemitisch war. Judenfeindschaft begleitete jedenfalls danach die von Marx geprägte Arbeiterbewegung oft – auch wenn nicht wenige ihrer Vertreter und Vertreterinnen selbst jüdischer Abstammung waren.

Israel als Vasall der USA

Das sollte sich auch nicht nach der Gründung des Staates Israels 1948 ändern. Zwar war diese Gründung von der Sowjetunion in der UNO unterstützt worden, in der Logik des Kalten Kriegs verbündete sich der Ostblock aber rasch mit den arabischen Nachbarländern Israels. Auch in großen Teilen der westlichen Linken galt Israel schnell als Vasall der USA und als imperialistischer Kolonialstaat, der die einheimische Bevölkerung verdrängt und unterdrückt. Entsprechend kam es zu allerlei Allianzen zwischen dieser antiimperialistischen Linken und Palästinensern – ausgedrückt etwa in gemeinsamen Aktionen linksextremer und palästinensischer Terroristen in den 1970er Jahren.

Postkolonialismus: Alles Übel aus dem Westen

In dieser Geistestradition steht auch der Postkolonialismus, der sich mit den Spuren des westlichen Kolonialismus nach seinem faktischen Ende beschäftigt. Und zwar nicht nur mit den ökonomischen und politischen Spuren, sondern sozusagen auch mit jenen in den Köpfen. Sehr verkürzt könnte man dieses Denken so zusammenfassen: Die Kolonialstaaten sind ausschließlich Täter, die kolonialisierten Länder ausschließlich Opfer. Der Westen hat das, was heute unscharf, aber doch „globaler Süden“ heißt, nicht nur ausgebeutet, sondern in gewisser Weise auch ideologisch erfunden – als untergeordneter Gegensatz zu sich selbst. Deshalb stehen alle Ideen dieses Westens – und seien es hehre wie universale Menschenrechte – unter Verdacht, letztlich doch nur verkappte Machtinstrumente zu sein, die an der strukturellen Ungleichheit der Welt nichts ändern wollen.

Relativierungen und Anleihen von rechts

Ausgehend von US-Elite-Universitäten herrschen derartige postkoloniale Denkansätze heute an vielen, vor allem westlichen Hochschulen vor. Bezogen auf Israel bedeuten sie ebenso stark verkürzt: Israel ist ein Überbleibsel des westlichen Kolonialismus. Es agiere ähnlich rassistisch wie der frühere Apartheidstaat Südafrika und müsse deshalb ähnlich bekämpft werden – sei es mit wirtschaftlichem Boykott oder militärisch. Dass Israel selbst auch eine Folge des europäischen Rassismus und seines schrecklichen Höhepunkts, der Schoah, ist, wird dabei eher unter den Tisch gekehrt oder relativiert.

Das hat sich bei zahlreichen Skandalen in den vergangenen Jahren speziell im Kulturbereich gezeigt, etwa zur documenta in Deutschland. Begleitet werden diese Skandale zumeist mit dem Lamento über angebliche Denk- und Redeverbote – allesamt Denkfiguren, die man auch aus dem rechten Antisemitismus kennt. Randnotiz: Kein anderes Land wird weltweit mehr verurteilt als Israel, wie etwa die Anzahl der UNO-Resolutionen zeigen.

Hamas als „Teil der globalen Linken“

Diese Ausgangslage hat auch zu den erwartbaren Reaktionen nach dem 7. Oktober geführt: Postkoloniale Israel-Kritiker und -kritikerinnen begrüßen den Hamas-Terror in der Regel zwar nicht, betrachten ihn aber im weitesten Sinn als Teil des palästinensischen Befreiungskampfes. Als „militärische Aktion“ wurde er etwa in einem Brief der Columbia University drei Wochen danach bezeichnet – unterschrieben von zahlreichen postkolonialistischen Intellektuellen.

Israel begehe in Gaza Völkermord, stand in einem weiteren offenen Brief, unterschrieben u.a. von Judith Butler – der vielleicht wichtigsten lebenden Philosophin und Mitbegründerin der queer-feministischen Gender Studies. Sie hat die Hamas vor vielen Jahren als „progressiv“ und als „Teil der globalen Linken“ bezeichnet, später ergänzt, dass sie die Terrorgruppe allerdings nicht unterstütze.

Pro-palästinensische Demonstration an der Columbia University in New York, einer der Hochburgen des Postkolonialismus
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Pro-palästinensische Demonstration an der Columbia University in New York, einer der Hochburgen des Postkolonialismus, am 12. Oktober 2023 – fünf Tage nach dem Hamas-Terror

An US-Elite-Unis ist es schon kurz nach dem 7. Oktober wenig überraschend zu zahlreichen pro-palästinensischen Demonstrationen und antisemitischen Vorfällen gekommen. Die Postkolonialismus-Intellektuellen und ihre oft noch radikaleren Studentinnen und Studenten wurden in Folge stark kritisiert. Vorige Woche etwa gab es eine öffentliche Anhörung von Hochschulpräsidentinnen mehrerer Elite-Unis. Unklare Antworten auf die Frage, ob Aufrufe zum „Völkermord an den Juden“ gegen Uni-Richtlinien verstoßen, haben dabei für Empörung gesorgt, einige Großspender der Unis drohten sich zurückzuziehen.

Weniger Vorfälle, aber auch in Österreich

In Österreich sind die Rahmenbedingungen andere und die Vorkommnisse seltener: Dennoch ist seit dem 7. Oktober auch hierzulande verstärkt Antisemitismus an den Universitäten zu beobachten – von den Schmierereien am Campus der Universität Wien bis zu Pöbeleien und Einschüchterungsversuchen an der Central European University und an der Universität für angewandte Kunst in Wien – von der auch einer beiden österreichischen Unterzeichner des oben genannten „Völkermord-Briefs“ stammt. Die Rektorate haben sich von diesen antisemitischen Vorfällen jeweils mehr oder weniger schnell distanziert.

Ihre Anzahl sei im Vergleich zu anderen Ländern viel geringer, sagen die Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen (JöH), die diese Vorfälle dokumentieren. In allen Fällen dürfte es aber auch hierzulande ein postkolonialistisches und antiimperialistisches Denken sein, das den Vorfällen zugrunde lag. Wobei betont werden muss: Dabei handelt es sich nicht um einen homogenen Block, in dem alle das gleiche denken – natürlich gibt es auch hier Vertreterinnen und Vertreter, die sich von Antisemitismus distanzieren.

Streit um Definition

Damit vielleicht zum letzten Punkt: Seit vielen Jahren wird auch akademisch darüber diskutiert, was Antisemitismus überhaupt ist. Es gibt auf der einen Seite die Definition der IHRA (Internationale Allianz zum Holocaustgedenken), die explizit auch den Staat Israel als Ziel von antisemitischen Angriffen anführt. Dieser Definition folgt etwa das offizielle Österreich. Demgegenüber steht seit rund drei Jahren die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus, die besonders betont, dass Kritik an Israel nicht per se antisemitisch sein muss – wobei auch die IHRA-Definition eine solche Kritik zulässt. Zwischen diesen beiden Definitionen bewegt sich die Diskussion – aktuell besonders hitzig, und das wird sich wohl nicht so rasch ändern.