Paul Feyerabend
picturedesk.com/SZ-Photo/Anna Weise
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Philosophie

Feyerabends spöttisches Vermächtnis

Am 13. Jänner jährt sich Paul Feyerabends Geburtstag zum hundertsten Mal. Der verhinderte Opernsänger aus Wien mischte die Szene der Wissenschaftsphilosophie auf, provozierte seine Zeitgenossen – und wurde nicht selten missverstanden: Sein Werk ist trotz aller Ausritte ein Bekenntnis zu Vernunft und Wahrheit.

Im Jahr 1976 steigt der österreichische Philosophiestudent Josef Mitterer in sein Auto, um von Berkeley nach San Francisco zu fahren. Am Beifahrersitz nimmt sein Professor Platz. Dieser leidet wegen einer Kriegsverletzung unter chronischen Schmerzen und sucht daher bei einem Akupunkteur nach Linderung. Sein Name: Paul Feyerabend, ausgebildeter Sänger, studierter Physiker, im Brotberuf Philosoph.

„Ich hatte ihm meine bescheidenen philosophischen Versuche gegeben, in der Hoffnung, er würde sie lesen. Bei der gemeinsamen Autofahrt war es dann so weit: Endlich konnte ich mit ihm über Philosophie reden“, erinnert sich Josef Mitterer. „Wobei ich Schwierigkeiten hatte, mich zu konzentrieren. Feyerabend begann Arien zu singen, und die Autobahnbrücken zwischen Berkeley und San Francisco sind kompliziert – letztlich ging alles gut.“

Angekommen in San Francisco betreten die beiden ein Lebensmittelgeschäft. Im Hinterzimmer befindet sich der chinesische Akupunkteur, versteckt zwischen Obst- und Gemüsekisten. Offiziell dürfen nur US-amerikanische Ärzte Akupunktur anbieten, obwohl sie es alle von den Chinesen gelernt haben. Weshalb Feyerabend nach der Behandlung Gemüse einkauft. Um seinen Besuch im Hinterzimmer zu legitimieren.

„Vorträge über Hexen und Atome“

Eine Episode, die in gewisser Hinsicht auch für Feyerabends Karriere steht: Der aus Wien stammende Wissenschaftsphilosoph lehrte und forschte an den besten Universitäten, Berkeley, Yale und Stanford etwa – gleichzeitig machte er sich im Hinterzimmer lustig über „konstipierte Professoren“ und „akademische Nagetiere“.

Sein Verhalten war nicht unbedingt das, was man vom Professor einer Eliteuniversität erwarten würde. Kostprobe: „Am Institute for Technology in Georgia hielt ich einen Vortrag über die zivilisierende Funktion der Prostitution und die antihumanitäre Funktion der Wissenschaft, in Mittelschulen hielt ich Vorträge über Hexen und Atome. Erstere sicher existierend, die zweiten zweifelhaft…"

So schrieb Paul Feyerabend an seinen Freund und Heidelberger Philosophenkollegen Hans Albert anno 1970. Was die beiden in ihrem Briefwechsel austauschten, war eine Mischung ernsthafter philosophischer Anliegen und Blödelei, da finden sich jede Menge Zoten und spöttische Bemerkungen, vor allem Karl Popper bekommt immer wieder sein Fett ab: „Der Esel Popper – möge sein Name und seine Saat verdorren (das stammt aus dem Babylonischen Fluchbüchlein)“ – also von Feyerabend, nicht von Albert, der war ja stramm auf Linie des kritischen Rationalismus. Jener Denkschule, die Popper von London aus nach ganz Europa getragen und zu einer einflussreichen Strömung der Philosophie gemacht hat hatte.

Vernunft im Plural

Das gespannte Verhältnis zu Popper ist ein guter Ausgangspunkt, um sich Feyerabends Werk anzunähern. „Against Method“ (deutsch: „Wider den Methodenzwang“), sein bekanntestes Buch, ist im Grunde ein Angriff auf Poppers „Logik der Forschung“. Auf die Ansicht, dass sich Wissenschaft durch zwei Prinzipien charakterisieren lässt.

Erstens: Der Fortschritt der Forschung besteht aus der mutigen Formulierung neuer Theorien, an denen man aber nur so lange festhalten darf, bis sie widerlegt wurden. Und dieser Vorgang darf, zweitens, auch nicht dadurch außer Kraft gesetzt werden, dass man die Theorien durch spontane Zusatzannahmen versucht zu retten. Einmal widerlegt heißt für immer widerlegt. Es muss also eine neue Theorie her – genau durch dieses Nein der Widerlegung („Falsifikation“) ergibt sich laut Popper langfristig gesehen ein Zuwachs an Wissen.

Feyerabend argumentierte in „Wider den Methodenzwang“, dass das ein blutleeres und letztlich irreführendes Bild ist. Weil Wissenschaften alter Zeiten und fremder Kulturen ihre eigene Art von Vernunft besitzen, die man aus heutiger Sicht durchaus verstehen kann. Vernunft ist für Feyerabend ein Konzept im Plural. Es gibt nicht die Vernunft, sondern viele.

Paul Feyerabend, ohne Datum
Grazia Borrini-Feyerabend

„Voraussetzung dafür ist allerdings eine gewisse Sympathie“, sagt der Wiener Wissenschaftsphilosoph Martin Kusch über Feyerabends Vermächtnis. „Vor allen Dingen braucht es eine Reduktion der eigenen Überheblichkeit. Die müssen wir außer Kraft setzen, damit wir überhaupt anerkennen können, was an den anderen Kulturen wertvoll ist.“

Feyerabend hat sich exzessiv mit Formen der Wissenschaft auseinandergesetzt, die weit vor unserer modernen Zeit liegen. Von „Vorformen“ zu sprechen, wäre in seinem Sinne bereits falsch.

„Ich soll ja eine Naturphilosophie für die deutsche Buchgemeinschaft schreiben, nehme mir vor, das vor allem historisch zu tun, und da fange ich bei der Steinzeit an, begebe mich von da an langsam in das fünfte Jahrtausend in Ägypten, Babylonien etc., dann zu den schon sehr verkommenen und modernen Griechen, dann in das Mittelalter. Und die Neuzeit wird dann nur ganz kurz, als Abstieg ins Verderben behandelt werden.“

Fröhliche Wissenschaft

Auch hier gilt wieder: Nicht alles für bare Münze nehmen, was Feyerabend an seinen Freund Hans Albert schreibt. Einen wahren Kern hat es dennoch. Sein Forschungsprogramm war empathisch angelegt – und da passen die Popper‘schen Verbote wohl kaum dazu.

Popper war für Feyerabend nicht nur fachlich ein Reibebaum, er wurde ihm im Laufe der Jahre auch habituell immer mehr zuwider. Vor allem die Humorlosigkeit, die im kritischen Rationalismus angelegt ist. Daher der Spott, mit dem er auch in universitären Angelegenheiten nicht sparte.

Als man in einer Institutssitzung besprach, mit wem eine offene Stelle an der Uni Berkeley besetzt werden sollte, störte Feyerabend die Diskussion wieder einmal durch Faxen. Einer der Professoren: „Was du vorschlägst, wäre doch ganz einfach, die Tür aufzumachen, rauszugehen und dem ersten, der vorbeigeht, eine Professur zu geben.“ Darauf Feyerabend: „Ich bin sehr glücklich, dass du mich so gut verstanden hast.“

Das fanden nicht alle lustig. Der Philosoph John Searle setzte sich über Jahre hinweg dafür ein, dass man Feyerabend in Berkeley feuert. Erfolglos. 1980 nahm dieser selbst den Hut und wechselte an die ETH Zürich.

Licht und Schatten

Im Leben Paul Feyerabends gibt es helle und dunkle Phasen. Seine Mutter begeht Suizid, als er 19 ist. Eine Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg bereitet ihm lebenslang Schmerzen, die er durch Medikamente, bisweilen auch durch Drogenkonsum zu unterdrücken versucht. Durch die Kugel im Rücken ist er auf eine Krücke angewiesen, außerdem impotent, wie er in seiner Autobiographie „Zeitverschwendung“ bekennt.

Was ihn nicht davon abhält, zahlreiche Affären zu haben. Lange halten die Beziehungen nicht, nach drei geschiedenen Ehen lernt er im Alter von 59 seinen Lebensmensch kennen, die italienische Physikerin Grazia Borrini, mit der er bis zu seinem Tod im Jahr 1994 eine glückliche Ehe führt.

Sich von der Fachwelt missverstanden fühlend leidet Feyerabend zeitweise unter Depressionen, dennoch sprudelt aus seinen Texten und Briefen Lebensfreude, sein intellektueller Appetit ist enorm. Laut einer Anekdote soll ihm Bert Brecht einst angeboten haben, sein Assistent zu werden, das gleiche Angebot hat in frühen Jahren auch Karl Popper ausgesprochen. Feyerabend lehnt beides ab. Die Assistentenrolle liegt ihm nicht.

Alles geht: Ein Missverständnis

„Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niederen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, ‚Objektivität‘, ‚Wahrheit‘, der wird einsehen, dass es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen vertreten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes.“

Cover der ersten Auflage von „Against Method“
Public Domain

Passagen wie diese aus „Wider den Methodenzwang“ wurden von Kritikern dahingehend gedeutet, dass man in der Wissenschaft alles machen könne. Als Slogan für Beliebigkeit. Entsprechend empört reagierte die Fachwelt auf sein Buch.

Geht wirklich alles? Nein, sagt Martin Kusch, mit „Anything goes“ war etwas anderes gemeint. „Feyerabend sagt: Methoden sind wichtig. Wissenschaft benutzt immer Methoden. Aber es lässt sich keine einzige Methode identifizieren, von der es nicht manchmal zum Fortschritt der Wissenschaft notwendig war, genau diese Methode zu ignorieren.“

„Glaubt mir nicht“

Seinen Relativismus antiwissenschaftlich zu deuten, wäre auch historisch verfehlt. Feyerabends Werk befindet sich in der Tradition des Wiener Kreises, der Anfang des 20. Jahrhunderts an einer Verwissenschaftlichung der Philosophie arbeitete und sich von absoluten Wahrheiten der Metaphysik distanzierte.

Von diesem Reformprogramm betroffen war nicht zuletzt die Wissenschaft selbst. Autoren wie der Ökonom Otto Neurath und Philipp Frank, Nachfolger Einsteins auf dessen Lehrstuhl in Prag – beide wichtige Bezugspunkte für Feyerabend – betonten, dass auch die Wissenschaft keine absoluten Wahrheiten liefern kann. Sondern bloß Einsichten, die relativ sind zu Vorannahmen, Messmethoden, letztlich: dem ganzen kulturellen Umfeld unserer Zeit.

Ein Denkrahmen, der so manchem Sager Feyerabends eine neue Bedeutung gibt: „Gegen die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig, wie gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes gibt als Schweinebraten.“ Eine philosophische Schule hat Feyerabend übrigens nie begründet. „In der Vorlesung“, so erinnert sich Josef Mitterer, „sagte er zu uns: Glaubt mir doch nicht, was ich euch erzähle.“