Universum History Frauenhandel
Carolina Steinbrecher/NGF Geyrhalterfilm
Carolina Steinbrecher/NGF Geyrhalterfilm
Wien um 1900

Drehscheibe des Frauenhandels

2022 sind in Österreich 56 Fälle von Menschenhandel und grenzüberschreitendem Prostitutionshandel angezeigt worden – doch die Dunkelziffer ist hoch. Neu ist das Phänomen nicht: Schon um 1900 war Wien Drehscheibe des Frauenhandels, wie eine neue „Universum History“-Doku beleuchtet.

Es ist ein internationales Geschäft, das gute Gewinne abwirft – das Geschäft mit der lebenden „Ware“ Frau. Je nach Renditen teilten die Händler um 1900 die Mädchen in „Primaware“, „Secundaware“ oder „Tertiaware“ ein. Diesen Jargon haben Polizeibehörden oft übernommen, schreibt der Historiker Johannes Schönner in einem Artikel für das SIAK-Journal, eine Zeitschrift des Innenministeriums für Polizeiwissenschaften und die polizeiliche Praxis.

Gehandelt wurden junge Mädchen und Frauen aus der Habsburger Monarchie in alle Welt – nach Konstantinopel, Bombay (heute Mumbai), Kapstadt und in die Großstädte der Monarchie. Eines der Hauptziele war Buenos Aires.

Bindeglied zwischen Orient und Okzident

„Mädchenhandel ist wahrscheinlich das erste organisierte Verbrechen nach einem modernen Maßstab. Die österreichischen Behörden sind immer einen Schritt hintennach“, sagt der Historiker Lothar Hölbling von der Universität Wien. Er hat die Polizeiakten zum Thema Mädchenhandel in den Jahren 1880 bis 1900 umfassend aufgearbeitet. Frauenhandel ist gut dokumentiert: Im Archiv der Landespolizeidirektion Wien gibt es zahlreiche historische Dokumente. Beim Mädchenhandel um 1900 kommen erstmals auch internationale Polizeiermittlungen und Fahndungsmethoden zum Einsatz.

ORF-Sendungshinweis

Universum History zeigt am 5. März, 21.05 Uhr in ORF2, die Dokumentation „Aufstand im Bordell – Frauenhandel um 1900“.

Wien als Bindeglied zwischen Orient und Okzident ist zu dieser Zeit eine Drehscheibe des Frauenhandels zwischen Österreich-Ungarn und Südamerika. Das zeigt etwa ein Brief, der sich unter den Dokumenten im Polizeiarchiv findet. Einer jungen Frau gelingt es nach eineinhalb Jahren in einem Bordell in Buenos Aires zu fliehen. Die Situation dort beschrieb sie nach Worten Hölblings so: „Alles Tyrannen, die über die Mädchen herrschen und uns behandeln wie Sklaven.“

Händler brachen mehrmals im Jahr zu Rekrutierungsfahrten nach Europa auf, und brachten jedes Mal nur ein paar Mädchen mit – damit das System nicht auffällt. Die Handelsrouten verliefen über Seehäfen wie Hamburg, Bremerhaven und Triest. Vor allem Hamburg war ein Umschlagplatz für den Frauenhandel.

Nährboden in Elend und Verfolgung

„Hauptrekrutierungsgebiete“ der Mädchen waren Russland sowie die ärmsten Gebiete der Habsburgermonarchie im Osten, wie Galizien und die Bukowina. Dort war ein Großteil der Bevölkerung jüdisch, und so waren auch viele der gehandelten Mädchen und der Händler Jüdinnen und Juden. Im zaristischen Russland trieben Pogrome und diskriminierende Gesetze hunderttausende Juden und Jüdinnen ins Exil, wo sie verzweifelt nach Erwerbsmöglichkeiten suchten.

Tatsächlich habe es jüdische Mafias gegeben, die Frauenhandel betrieben und deren Nährboden im Elend und der Verfolgung in Osteuropa lag, sagt der Judaist und Kulturwissenschaftler Klaus Samuel Davidowicz von der Universität Wien. Das Thema Mädchenhandel tauche in jüdischer Belletristik und im Film auf, sei aber bis heute wissenschaftlich wenig aufgearbeitet.

Den jüdischen Gemeinden sei es peinlich und unangenehm gewesen, dass es jüdische Opfer und jüdische Täter gegeben habe, so Davidowicz: „Sie wollten auf der einen Seite natürlich nichts mit den Zuhältern zu tun haben, weil das für sie Verbrecher waren, aber sie wollten auch mit den Opfern nichts zu tun haben. Das war ein Thema, das sie gerne ausgeblendet haben, weil es natürlich durch diesen Mädchenhandel auch zu antisemitischen Klischees, Vorurteilen und Stereotypen gekommen ist.“

Falsche Versprechungen

Die Mechanismen von Anwerbung und Abhängigkeitsverhältnis waren um 1900 ähnlich wie heute: Agenten locken junge Mädchen mit falschen Versprechungen und bieten ihnen eine gutbezahlte Stellung im Ausland. Hölbling beschreibt ein Beispiel:

„Ein Agent vermittelt eine junge Frau in die Schweiz. Sie wird mit Reisegeld und Fahrkarten ausgestattet und reist in die Schweiz zu einem weiteren Dienstvermittler. Und dort sagt man ihr, dass die Stelle leider schon vergeben ist. Aber man sei sehr bemüht, eine andere Stelle für sie zu finden. Dafür müsste sie allerdings bereit sein, auch in ein Drittland weiterzureisen. Und wenn sie Interesse hat, dann könnte das sogar ein sehr exotisches Land sein, wie Argentinien.“

Mit Reisekosten entsteht „erste Schuld“

So wurden Mädchen und Frauen aus Ost- und Mitteleuropa um 1900 in Bordelle auf der ganzen Welt gebracht – von den USA bis Indien. Ihnen wurden gleich zu Beginn Dokumente, Reisepässe, aber auch Kleidung und persönliche Gegenstände abgenommen. Dann sagte man ihnen, sie müssten die Kosten für Reise, Wohnung, Essen und neue Kleidung abarbeiten. Durch die entstandenen Schulden konnten die Frauen ohne Bezahlung in den Bordellen gehalten werden. So waren sie der Willkür ausgesetzt, und wurden in Abhängigkeit gehalten.

Das sei bis heute so, sagt Sangeetha Manavalan, die Leiterin der staatlich beauftragten Interventionsstelle für Betroffene von Frauenhandel (IBF): „Die erste Schuld entsteht, wenn der Täter oder die Täterin die Reisekosten übernimmt. Wenn die Frau dann im Land angekommen ist, kommen Wohnungskosten und Essen dazu. Und auf einmal ist nicht mehr von 5.000 Euro, sondern von 50.000 Euro die Rede. Egal wie viel die Frau arbeitet, die Schulden steigen weiter.“

Internationales Übereinkommen schon 1910

Dem Kampf gegen den Mädchenhandel wurde schon im 19. Jahrhundert international große Aufmerksamkeit zuteil. Bereits damals entwickelten sich überregionale Kooperationen. Mitte der 1880er Jahre entstanden die ersten bilateralen Verträge zur Behandlung ausländischer Prostituierter. 1910 gab es ein erstes internationales Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels.

Universum History Frauenhandel
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Auch den Prozess gegen eine Bordellschefin, der 1906 in Wien stattfand, behandelt die Universum-History-Doku

Nach dem Ersten Weltkrieg widmete sich auch der Völkerbund intensiv der Bekämpfung des Mädchenhandels. In der jungen Republik Österreich richtete die Polizei um 1919 eine Zentralstelle zur Überwachung des Mädchenhandels ein, mit einem dichten Netz an polizeilichen Beobachtungsstellen. Zudem waren Organisationen wie die Österreichische Mädchen- und Kinderschutzliga, die Caritas Socialis, die Bahnhofsmission etc. bei der Bekämpfung des Mädchenhandels tätig.

Österreich weiterhin Transit- und Zielland

Die Herkunfts- und Zielländer haben sich verändert – doch mit Täuschungen und Halbwahrheiten arbeiten Menschenhändler noch immer. Und weiterhin landen viele Frauen in Wien. Durch seine zentrale Lage in Europa ist Österreich auch heute stark vom Menschenhandel betroffen. Auch Frauen sind als Täterinnen involviert.

Sie werden im Jargon „Madame“ genannt, erzählt Manavalan: „Sie gibt der Frau das Gefühl, das sie ihr hilft: ‚Ich habe dir einen Job angeboten, ich nehme dich mit, übernehme alle Kosten. Ich stelle sicher, dass es dir gut geht.‘ Es wird immer wieder mit ihren Gefühlen gespielt. Es sind falsche Versprechungen.“

Hinweis

Die Menschenhandelshotline im Bundeskriminalamt nimmt rund um die Uhr Hinweise zu Menschenhandel entgegen.

In Österreich seien vor allem Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und der Ausbeutung der Arbeitskraft, sklavereiähnliche Zustände bei Hausangestellten, aber auch der Kinderhandel verbreitet, heißt es auf der Website des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten. Die Betroffenen stammen meist aus ärmeren EU- oder Drittstaaten. In allen Fällen handelt es sich um gravierende Menschenrechtsverletzungen.

Die erste Opferschutzeinrichtung für Betroffene des Frauenhandels in Österreich wurde 1998 von der feministischen Migrant*innen- Organisation LEFÖ gegründet. Die Interventionsstelle für Betroffene von Frauenhandel arbeitet im Auftrag des Innenministeriums und des Bundeskanzleramts (Sektion Frauen und Gleichstellung). LEFÖ-IBF bietet psychosoziale und juristische Prozessbegleitung für Betroffene im Auftrag des Justizministeriums. Hier werden Frauen anonym, kostenlos und vertraulich beraten, und erhalten Hilfe wie eine sichere Schutzunterkunft oder Zugang zu medizinischer und ärztlicher Versorgung.