Uhren aus verschiedenen Zeitzonen
Ozphoto/stock.adobe.com
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Heinz Bude

Was Zeitgenossen in Krisenzeiten bedeuten

Die Zeit ist nie nur unsere Zeit, sondern immer auch die Zeit der anderen – der Zeitgenossen, schreibt Heinz Bude in einem Gastbeitrag. Der renommierte Soziologe beschäftigt sich darin mit einem schwer fassbaren Begriff: Was bedeutet Zeitgenossenschaft in einer Welt globaler Gleichzeitigkeit, abnehmender Gewissheiten und wachsenden Erschreckens? Am Montag hält er in Wien einen Vortrag zum Thema.

„Ob man es merkt oder nicht, fast täglich hört eine Epoche auf“. Ich greife diese Feststellung von Jürgen Becker aus dessen Journalgedichten von 2022 unter dem Titel „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ auf und frage nach dem Begriff und der Erfahrung von Zeitgenossenschaft in einer Zeit abnehmender Gewissheiten und wachsenden Erschreckens.

Zwingt uns die Zeit eine gewisse Erfahrung von Zeitgenossenschaft auf oder konstruieren wir uns unsere Zeit je nachdem, mit welchen Genossinnen wir uns zur Selbstvergewisserung in der Zeit verbünden? Offenbar brauchen wir die anderen, um uns in unserer Zeit und womöglich gegen unsere Zeit in Stellung zu bringen. Die Zeit ist nie nur unsere Zeit, sondern immer auch die Zeit der anderen.

Heinz Bude
Jan Dreer

Über den Autor

Heinz Bude war von 2000 bis 2023 Universitätsprofessor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, und ist seit 2020 Gründungsdirektor des documenta Instituts in Kassel. Er forscht einerseits zur Soziologie der Generationen, zum anderen über die Protegierung des Begriffs der sozialen Exklusion, der auf querlaufende Verwerfungen in der Sozialstruktur von Gegenwartsgesellschaften aufmerksam macht.

Umkämpfte Zeit

Die Zeit ist dabei zwischen den Regionen und Generationen umkämpft. Während die glorreiche Zeit Europas und der daraus hervorgegangenen USA zu Ende geht, reklamieren China und Indien, Vietnam und Indonesien, Nigeria und Saudi-Arabien eine neue Zeit für sich.

Derweil nehmen in den Ländern des OECD-Raums die zwischen 1958 und 1968 geborenen Boomer als letzte Nachkriegsgeneration ihren Abschied. Sie stammen noch aus einer Welt, in der das Schlimmste, was einem in Europa und den USA passieren konnte, hinter ihnen lag. Nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Ermordung der europäischen Juden konnte eigentlich alles nur besser werden.

Wandel der Zeitverhältnisse

Für die ihnen nachfolgenden Generationen der heute vierzigjähren Millennials und der zwischen 1995 und 2010 geborenen Generation Z liegt das Schlimmste, was einem in diesen Weltregionen passieren kann, noch vor ihnen. Die Jüngeren können sich daher um die Zeit, die dieser Boomer-Generation der „großen Beschleunigung“ der Lebensverhältnisse (Autos, Klimaanlagen, Fernreisen, Unterhaltungselektronik, Digitaltechnik) geschenkt worden ist, betrogen fühlen.

Der Klimawandel ist dabei der Ausdruck für einen Wandel der Zeitverhältnisse, in denen sich aufbauende und zerstörende, rettende und bedrohende Zeiten überlagern und eine geteilte Zeitgenossenschaft in Frage stellen. Mit der Entdeckung des Menschen als geologischer Macht ist zuletzt die Geschichte der Erde mit der Geschichte des Menschen verwoben worden.

Rückzug und Angst vor der Wahrheit

Welche Zeit wird einem mit welchen Genossen heute ansichtig? In „finsteren Zeiten“, so ein Ausdruck von Bertolt Brecht, vermeiden die Menschen den Streit und wollen möglichst nur mit Menschen zu tun haben, mit denen sich nicht in einen Streit geraten, verlieren nach Ansicht von Hannah Arendt Gesellschaften ihre politische Kraft. Man verlangt von der Politik nur, dass man seine Ruhe hat und sich auf die Verteidigung des Erreichten und Erworbenen im Persönlichen und Privaten konzentrieren kann.

Veranstaltungshinweis

Am Montag hält Heinz Bude am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien (ifk) einen Vortrag zum Thema: „Zeitgenossenschaft. Für welche Zeit und mit welchen Genoss*innen?“: 18.3., 18:15. Bude ist derzeit ist als Gast der Direktion Fellow am ifk.

„Bowling Alone“ war das Bild, das Robert O. Putnam dafür schon 2000 gefunden hat. „Triggerpunkte“ (Steffen Mau) locken die Leute dann aus den „kleinen Lebenswelten“ und polarisieren das Publikum einer sich brutalisierenden Öffentlichkeit. Man trifft ständig auf Leute, die überzeugt sind, Recht zu haben, obwohl die meisten von ihnen Angst vor der Wahrheit haben.

Zeit, die niemanden gehört

So wird die Zeit für die Zeitgenossinnen zu einem rätselhaften Interregnum, wie es in dem Punkzitat aus der Zwischenkriegszeit von Antonio Gramsci heißt, in dem das Alte stirbt und das Neue nicht geboren werden kann.

Das muss keine Zeit der Monster (wie im Gramsci-Zitat, Anm.), es kann auch eine Zeit der Entscheidungen sein. Es kommt darauf an, ob in der vergehenden Zeit eine kommende Zeit gedacht werden kann. Das wäre nicht die vorausberechnete Zukunft einer verharrenden Zeit, sondern die gegenwärtige Zukunft einer, wie beispielsweise Jacques Derrida herausgearbeitet hat, niemandem gehörenden Zeit.