Schon vor etlichen Jahren sagte der damalige ÖFB-Teamchef Didi Constantini, dass Taktik im Fußball überbewertet sei. Die Expertinnen und Experten von Google DeepMind sehen das anscheinend anders. Bei der Entwicklung des Systems TacticAI vertrauten sie auch auf die Expertise des FC Liverpool, der das Team von Google DeepMind mit zahlreichen Einblicken in den Fußballsport unterstützte.
Vorerst ist das System ausschließlich auf Eckbälle ausgerichtet – die Fachleute von Google DeepMind nutzten über 7.000 Eckballdatensätze von Liverpool aus vergangenen Premier-League-Saisonen, um es zu trainieren. Mit nur wenigen Änderungen und relativ geringem Aufwand ist es laut den Entwicklern aber auch möglich, die KI bei vergleichbaren Situationen im Fußball, etwa bei Freistößen, und auch in anderen Sportarten einzusetzen.
Vorhersagen zu Eckbällen
Dass TacticAI derzeit nur bei Eckbällen funktioniert, habe mehrere technische, aber auch spielbezogene Gründe. „In diesen Situationen stehen die Spieler kurz still, und die KI kann ihre Positionen relativ einfach analysieren und sie mit den zuvor gesammelten Spielerdaten in Zusammenhang bringen. Gleichzeitig sind Eckbälle aber auch wichtige Gelegenheiten im Spiel, in denen der Ball oft im Tor landet und in denen die Taktiken beider Teams große Rollen spielen“, erklärt der an der Entwicklung beteiligte Informatiker Petar Veličković gegenüber science.ORF.at. Im Spitzenfußball bereiten sich die Teams daher ohnehin immer auch auf die Eckballstrategie der Gegner vor – TacticAI könnte diesen Prozess vereinfachen, beschleunigen und verbessern.
Das derzeit im Fachjournal „Nature Communications“ präsentierte KI-System hat mehrere Funktionen. Einerseits kann es in einer Eckballsituation vorhersagen, welcher Spieler oder welche Spielerin den Ball am wahrscheinlichsten erhalten wird und was danach vermutlich damit geschieht. Andererseits ist das System in der Lage, Videomaterial zu analysieren und Schwachpunkte in der gegnerischen Eckballstrategie aufzuzeigen. „Als Trainer kann ich dann Maßnahmen setzen und die Taktik meiner Spieler so verändern, dass sie die Schwachpunkte der Gegner ausnutzen“, so Veličković.
Mehr Daten verbessern Ergebnisse
Für die Verteidigung besonders wichtig sei außerdem, dass TacticAI mehrere Vorschläge generiert, wie ein erfolgreicher Eckball des Gegnerteams vereitelt werden könnte. „Wenn ich mit dem System eine Eckballsituation analysiere, in der in einem früheren Spiel ein Tor gefallen ist, liefert es mir mehrere Optionen, wie man das Tor eventuell verhindern hätte können“, erklärt der Informatiker. Der Trainer müsse dann nur noch entscheiden, welcher Vorschlag der KI am besten funktioniert, und ihn bei vergleichbaren Eckballsituationen mit seinem Team umsetzen.
Wie gut TacticAI funktioniert, hängt dabei immer von der Zahl der Graphen und der generellen Datenmenge ab, mit der das System arbeitet. „Da sind ganz verschiedene Dinge relevant. Von der Größe der Spieler über ihr Gewicht, ihre Bewegungsmuster aus vorherigen Spielen bis hin zu den Eigenheiten beim Schuss oder der Art zu verteidigen können alle Daten in das System einfließen, die für die Erarbeitung einer Spieltaktik wichtig sein könnten“, so Veličković. Je mehr Daten über die eigenen Spieler und jene aus dem Gegnerteam vorhanden sind, desto effektiver sei auch die KI, und desto besser seien die Vorschläge, die von ihr generiert werden.
Einsatz „nicht unsportlich“
Dass die Vorschläge von TacticAI tatsächlich auch in einem realen Fußballmatch brauchbar sind, zeigte eine Umfrage mit Experten des FC Liverpool. Das Google-DeepMind-Team zeigte ihnen mehrere Graphen und bat sie, die beste Strategie für die darin dargestellten Eckbälle zu wählen. In 90 Prozent der Fälle bevorzugten sie jene Taktiken, die von TacticAI generiert wurden.
Zu einem unfairen Ungleichgewicht zwischen den Teams mit dem KI-System und jenen ohne führt der Einsatz von TacticAI laut dem Informatiker aber nicht. Da erfolgreiche Fußballteams mittlerweile ohnehin meist etliche Datenanalytiker beschäftigen, sei das Generieren der von der KI benötigten Informationen bereits gang und gäbe im Spitzensport.
Eine Frage der Zeit
Auch dass die Taktik in Fußballspielen künftig komplett von KI-Systemen stammen könnte, sei derzeit noch ausgeschlossen. „Die letzte Entscheidung, welche Strategie im Match tatsächlich zum Einsatz kommt, liegt immer noch beim Trainer – unser System macht nur ein paar Vorschläge.“
Der Informatiker sieht in der Anwendung von TacticAI also kein Problem in Sachen Fairness. „Sonst müsste man auch alle anderen Analysetechniken verbieten, die irgendetwas mit KI zu tun haben.“ Das System bringe nur ein paar Vorteile für die Trainerteams und somit auch die Fans im Stadion mit sich. „Trainern erlaubt die KI, Spieltaktiken in der Vorbereitung auf ein Match schneller und effektiver zu erarbeiten, was sich schließlich auch in spannenderen Auseinandersetzungen auf dem Platz äußern kann“, so Veličković.
Tatsächlich im Einsatz ist das neue KI-System von Google DeepMind noch nicht, immerhin wurde es von den Entwicklern gerade erst in einem Fachjournal präsentiert und vorgestellt. Veličković ist sich aber sicher, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis die ersten Spitzenclubs darauf aufmerksam werden und anfangen, mit TacticAI zu arbeiten.
Die frühere Aussage von Constantini, dass Taktik im Fußball generell überbewertet sei, entspreche jedenfalls nicht mehr den heutigen Anforderungen an den Spitzenfußball. Das weiß aber auch das österreichische Männer-Nationalteam. Seit Anfang der Woche feilen die Spieler im Trainingslager in Spanien an ihrer Taktik für die anstehende Europameisterschaft. Ob auch sie irgendwann auf die Vorschläge von TacticAI hören werden, wird sich aber erst zeigen.