Chance für grenzüberschreitende Solidarität

Solidarität endet derzeit vielfach an der Grenze. Das sei nachvollziehbar, weil der nationale Schulterschluss emotional funktioniert, meint die Politikwissenschaftlerin Monika Mokre. Doch: „Ohne grenzüberschreitende Solidarität sind wir Erste-Klasse-Passagiere auf einem sinkenden Schiff.“

Solidarität habe viel mit Kollektividentitäten und damit auch mit Abgrenzung von anderen Gruppen zu tun und werde oft in nationalen Grenzen gedacht, so Monika Mokre von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) im Gespräch mit der APA. Ein Virus halte sich allerdings nicht an nationale Grenzen. Hier funktioniere weder nationale Abschottung noch Abschottung der Reicheren von den Ärmeren, sie plädiert daher für transnationale Solidarität. Immerhin zeige die aktuelle Situation, wie sehr das Leben jedes einzelnen von den Lebensbedingungen aller abhänge.

Man sollte auch schauen, wo es global gesehen die größten Probleme gibt und wie dort geholfen werden kann. Zum Teil passiere das schon, wenn Deutschland etwa nun Kranke aus Frankreich aufnimmt oder Ärzte aus Albanien nach Italien gehen. „Man sollte das halt auch außereuropäisch denken, auch in Bezug auf Geflüchtete.“ Der Coronavirus-Ausbruch in Afghanistan etwa sei „die pure Katastrophe“. Man müsse auch dort in Infrastruktur investieren und schauen, wie man helfen kann, so die Wissenschaftlerin.

Nationale Reaktion

Die Staaten würden derzeit allerdings sehr national bis nationalistisch auf die Coronavirus-Pandemie reagieren, etwa wenn hierzulande von der Regierung Migrantinnen und Migranten mit dem Slogan „Team Österreich“ ausgeschlossen würden, obwohl diese nachweislich zu einem Großteil die derzeitigen systemerhaltenden Arbeiten erledigen. Mokre übt auch Kritik daran, dass nur österreichische Staatsbürger ein Recht auf einen Rückholflug hätten.

Grenzen der Solidarität aufgrund unseres Wirtschaftssystems sieht Mokre auch zwischen jenen, die derzeit in vergleichsweise gut bezahlten Jobs im Homeoffice sitzen können und jenen, die bei einer schlecht bezahlten Arbeit im Supermarkt oder am Bau ihre Gesundheit riskieren müssen. „Wir sehen ganz klar, dass Klassenunterschiede sich gerade verstärken. Das ist bei jeder Krise der Fall ist, bei jedem Erdbeben fallen die billigsten Häuser zuerst zusammen.“ Über nationale Solidarität werde versucht, diese Klassenunterschiede zu befrieden und offene Konflikte zu verhindern.

„Hier wäre es nötig, die Solidarität nicht dabei zu belassen, dass wir um 18 Uhr dem Gesundheitspersonal applaudieren. Was wir gerade sehen, muss sich in einem Lohnschema niederschlagen“, betont Mokre. „Man muss auch umdenken: Die, die jetzt als systemerhaltend definiert sind, sind genau diejenigen, die Jobs mit der schlechtesten Bezahlung und ohne besondere Reputation haben.“

Aufmerksamkeit abgezogen

Die extreme Fokussierung auf die Bewältigung der Coronavirus-Pandemie führt laut Mokre dazu, dass andere drängende gesellschaftliche Themen keine Aufmerksamkeit mehr bekommen. Beim Thema Geflüchtete sieht Mokre dabei allerdings „keinen dramatischen Unterschied“ zu vorher: Im Mainstream-Diskurs würden diese schon seit Längerem vor allem als „Gefahr“ dargestellt, was sich vor der Corona-Krise etwa im Slogan „Klima und Grenzen schützen“ der türkis-grünen Koalition niedergeschlagen habe.

Dem Thema Umwelt- und Klimaschutz sagt Mokre nach dem Abflauen der Corona-Krise hingegen ein Comeback voraus, die Themen könnten strategisch zusammen gedacht werden. „Die Entwicklung einer Pandemie, also einer weltweiten Seuche, hat schon auch viel mit globalisierten Wirtschaftskreisläufen zu tun und damit haben auch die Klimaprobleme zu tun.“

Die Langlebigkeit neuer Formen der Solidarität als Folge der Pandemie, etwa der Versorgung älterer Nachbarn mit Lebensmitteln, ist Mokre hingegen fraglich. „Wenn es für die Leute persönlich sehr eng wird, kann ich mir gut vorstellen, dass viele sagen: Jetzt schau ich nur mehr auf mich.“ Dazu komme, dass Solidarität auch eine emotionale Komponente hat – und die werde durch das Social Distancing derzeit erschwert.