Teilnehmer einer Videokonferenz in verschiedenen Kasteln auf einem Bildschirm
AFP – THOMAS SAMSON
AFP – THOMAS SAMSON
Digital

Zeitgeschichtetag rein virtuell

Seit Donnerstag findet der Österreichische Zeitgeschichtetag statt, aufgrund der Coronavirus-Pandemie erstmals rein virtuell. Welche Herausforderungen und welche neuen Themen das für seine Zunft aufwirft, erklärt Dirk Rupnow, Historiker und einer der Organisatoren, in einem E-Mail-Interview.

science.ORF.at: Wieviel Zeit hatten die Veranstalter, um den Zeitgeschichtetag von „real“ auf „virtuell“ umzustellen, was war dabei die größte Herausforderung?

Dirk Rupnow: Nach dem 16.3., als die Ausgangsbeschränkungen eingeführt wurden, mussten wir sehr rasch eine Entscheidung treffen: Komplett absagen, in den Herbst bzw. um ein Jahr verschieben – oder aber eine virtuelle Tagung zum lang angekündigten Termin durchführen. Eine Absage hätte die intensive Vorbereitungsarbeit von immerhin über einem Jahr vollkommen zunichte gemacht, eine Verschiebung um ein halbes oder ganzes Jahr erschien uns aus vielerlei Gründen von vornherein zu unsicher, so haben wir uns für eine virtuelle Durchführung entschieden. Wir hatten jetzt noch nicht einmal vier Wochen, um alles umzusetzen. Das war nur möglich, weil alle KollegInnen am Institut in dieser Situation fantastisch zusammengearbeitet haben und uns unser zentraler Informationsdienst an der Uni sehr gut unterstützt hat. Immerhin waren wir ja in dieser Zeit alle im „Home-Office“, konnten nicht mehr in unsere Büros, waren über ganz Österreich verstreut, tatsächlich von Wien bis Vorarlberg. Auch die gesamte Organisation in den vergangenen vier Wochen fand also ausschließlich in virtuellen Meetings statt.

Der Historiker Dirk Rupnow
Universität Innsbruck – Andreas Friedle

Dirk Rupnow ist Dekan der Philosophisch-Historischen Fakultät der Uni Innsbruck

Link

Ö1 Sendungshinweis

Dem Thema widmet sich auch ein Beitrag in Wissen aktuell: 17.4., 13:55 Uhr.

Wie viele Absagen gab es, wieviel Prozent des ursprünglichen Programms finden statt?

Rupnow: Es ist uns gelungen, über die Hälfte des Programms zu retten und auch mehr als die Hälfte der angemeldeten TeilnehmerInnen für die virtuelle Version zu gewinnen. Das ist schon für die Kürze der Zeit sehr erfreulich, finde ich. Viele KollegInnen haben uns außerdem rückgemeldet, dass sie sehr gerne teilnehmen würden, aber ihre Arbeitssituation im „Home-Office“ derzeit zu unklar oder fordernd ist, sie auch teilweise nicht mehr an ihre Arbeitsunterlagen in ihren Büros herankommen, so dass leider doch nicht präsentieren können. Aber grundsätzlich war die Resonanz äußerst positiv. Es sind auch eine ganze Reihe von „ZuschauerInnen“ neu hinzugekommen. Die virtuelle Version bietet ja im Gegensatz zur Präsenzveranstaltung in Innsbruck die Chance, dass Interessierte teilnehmen, egal wo sie sich gerade aufhalten. Letztlich kann sich jeder in die virtuellen Konferenzräume einklinken. Wir sind nur technisch limitiert, durch das Fassungsvermögen der virtuellen Räume, auch die sind ja nicht unendlich groß.

Wie viele Personen können maximal an einem Panel bzw. an der Keynote, die von Michael Köhlmeier gehalten wird, teilnehmen?

Rupnow: Wir können etwas mehr als 100 Personen in ein Panel hineinnehmen. Technisch gäbe es natürlich auch noch größere Optionen, aber auf die haben wir angesichts der kurzen Vorbereitungszeit nicht zurückgegriffen. Wenn wir eine Präsenzveranstaltung machen, dann befinden sich ja meistens in einem Panel nur 50 oder 60 Leute. Die Keynote Lecture von Michael Köhlmeier, der sie bei sich zu Hause in Vorarlberg für uns als Audio-File eingesprochen hat, die diversen Grußworte und Einleitungen, aber auch unser kleines Rahmenprogramm haben wir als YouTube-Videos auf der Tagungswebsite verlinkt. Damit sind sie jederzeit und unbegrenzt zugänglich, auch noch nach dem Ende der Konferenz. Das erschien uns wesentlich sinnvoller, als sie nur zu einer bestimmten Zeit in einem virtuellen Raum abzuwickeln wie die einzelnen Panels. Die normalen Panels werden wir allerdings nicht aufzeichnen, sie werden nur in Echtzeit ablaufen, inklusive Diskussion zwischen den Vortragenden, aber auch einem Q&A-Teil mit dem Publikum, das Fragen über einen Chat einbringen kann.

Gibt es so etwas wie Guidelines für Vortragende, wo sie ihre Kamera aufstellen sollen? Und/oder ist ein einheitlicher Büchertapetenhintergrund zu erwarten?

Rupnow: Nein, wir haben uns damit absichtlich zurückgehalten. Wir wissen ja, dass im Moment alle unter Ausnahmebedingungen arbeiten: KollegInnen, die fix an Unis angestellt sind, kämpfen hauptsächlich mit der virtuellen Lehre; KollegInnen, die freischwebend sind, sind ohnehin in prekären Situationen; viele haben nebenbei jetzt zusätzliche Care-Verpflichtungen usw. Wir wollten für alle den Aufwand möglichst geringhalten. Die meisten werden wohl nicht in ihren Büros sitzen, wenn sie teilnehmen, sondern zu Hause. Dort sieht es eben so aus, wie es aussieht. Natürlich stellt sich dabei auch die Frage, welchen Einblick man anderen KollegInnen und gewissermaßen der Welt in die eigene Privatsphäre geben will. Das tun wir ja normalerweise nicht. Aber das ist derzeit auch nicht nur für uns ein Problem, sondern für alle, die im „Home-Office“ arbeiten, bis hin zu ORF-Korrespondenten im Fernsehen. Auch da sehen wir ja in den vergangenen Wochen keinen einheitlichen Hintergrund, eine Studio-Tapete oder ähnliches, sondern Zimmerpflanzen, Regale usw. Was wir allerdings sehr wohl eingeführt haben, sind ein paar Grundregeln für das Verhalten in virtuellen Tagungsräumen: eine Netiquette. Auch bei einer Präsenzveranstaltung sollte man ja nicht dazwischenrufen etc. Zusätzlich geht es aber jetzt dabei auch darum, das System nicht technisch zu überlasten. Das ist natürlich eine zusätzliche Herausforderung.

Poster des virtuellen Zeitgeschichtetags in Innsbruck
Universität Innsbruck
Online-Poster des Zeitgeschichtetags

Hat sich durch die Virtualisierung des Zeitgeschichtstags inhaltlich etwas geändert?

Rupnow: Nein, dafür wäre auch zu wenig Zeit gewesen. Natürlich kann man sich die Frage stellen, inwieweit unser Motto jetzt noch aktuell ist. Inwieweit kann derzeit überhaupt noch etwas aktuell sein aus der Zeit „vor Corona“? Müssten wir uns nicht über die Geschichte von Epidemien und Pandemien, von Ausnahmezuständen und staatlichen Zwangsmaßnahmen etc. austauschen, über Gesellschaft, Politik und Kultur „während und nach Corona“? Viele denken ja derzeit darüber nach, wie die Welt „nach Corona“ aussehen wird, auch Historiker, obwohl wir bekanntermaßen keine Propheten sind.

Analyse und Wunschdenken scheinen mir dabei selten sauber getrennt zu werden. Wird die „neue Normalität“ im permanenten Ausnahmezustand liegen, in dem unsere Grundrechte langfristig außer Kraft gesetzt sind? Wird der Wohlfahrtsstaat ausgebaut und von einem digitalen Überwachungsstaat begleitet? Wird die Globalisierung eingebremst und zurückgefahren? Was wird von der EU nach der Corona-Krise übrig sein? Werden die Rechtspopulisten weltweit als Verlierer oder Nutznießer aus der Krise hervorgehen? Wird es mehr internationale Solidarität nach der Krise geben oder noch weniger? Werden wir mit der anderen großen Krise unserer Tage, die schon wieder vollkommen vergessen ist, der Klima-Krise, anders umgehen unter dem Eindruck der letzten Wochen? Und die dritte Krise, die Migrations- bzw. Flüchtlings-Krise, wie wird sie sich „nach Corona“ darstellen?

Vielleicht wird die große Enttäuschung aber auch darin liegen, dass „nach Corona“ im Wesentlichen alles so ist, wie es schon „vor Corona“ war … natürlich mit vielen Sparzwängen, die wir aber auch alle schon sehr gut kennen. Die Zeitgeschichtsforschung unserer Generation wird sich mit diesem Moment und seinen Folgen in Zukunft noch eingängig zu beschäftigen haben. Was er aber genau bedeutet, welche Veränderung er bewirken wird, ist bisher noch gar nicht abschätzbar.

Warum heißt der Titel des Zeitgeschichtetags eigentlich „Nach den Jubiläen“ – wir stehen doch heuer mit 75 Jahre Kriegsende schon wieder knapp vor Gedenktagen?

Rupnow: Als wir uns auf das Motto „Nach den Jubiläen“ geeinigt haben, hatten wir die Vielzahl der Jubiläen im Auge, die unsere Arbeit als ZeithistorikerInnen in den vergangenen Jahren bestimmt haben, nicht zuletzt das große und äußerst vielschichtige Erinnerungs- und Gedenkjahr der Republik 2018, aber in Innsbruck auch unser 350jähriges Universitätsjubiläum, das ja durchaus einen zeitgeschichtlichen Schwerpunkt hatte. Aber natürlich war klar: „Nach den Jubiläen“ heißt immer „vor den nächsten Jubiläen“. Und natürlich gibt es heuer gleich wieder eine ganze Reihe von wichtigen Jahrestagen zu beachten: 75 Jahre Kriegsende, damit auch die Gründung der Zweiten Republik, aber auch 100 Jahre Bundesverfassungsgesetz und 25 Jahre EU-Mitgliedschaft.

Vor allem ging es uns aber auch darum, grundsätzlich über die gesellschaftliche Bedeutung und Verantwortung der Zeitgeschichte, ihre Verschränkung mit Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik nachzudenken, Erfahrungen über das Zusammenarbeiten in verschiedenen institutionellen Kontexten und mit unterschiedlichen Medien auszutauschen und schließlich zu reflektieren, was der ständige Ausnahmezustand von Jubiläen und Jahrestagen für den Normalbetrieb unserer Wissenschaft bedeutet: inwieweit er der Wissenschaft nützt oder eher ihren Logiken zuwiderläuft, ob wir Getriebene der Öffentlichkeit sind oder die Jubiläen für uns nutzen können.

Es ist schwer vorstellbar, dass die Vortragenden nicht auf das Coronavirus referenzieren, allein wegen des neuen Formats: Gibt es welche, die das schon angekündigt haben, konkret mit ihren Inhalten zu verknüpfen?

Rupnow: Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Panels, die sich mit den Digital Humanities, also der Digitalisierung im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften beschäftigen. Das ist für uns ja ohnehin ein großes Thema, auch schon „vor Corona“, allerdings wird diese Digitalisierung (und Virtualisierung) in einigen Bereichen bei uns natürlich jetzt noch einmal enorm dynamisiert. Beispielsweise in der Lehre. Aber sie verändert nicht nur unsere Kommunikation, sondern auch unsere Forschung: unsere Quellen, unsere Fragen, unsere Methoden und unsere Ergebnisse.

Wir schließen daher am Samstag auch mit einem Round Table zu „Digitale Erinnerungslandschaften. Überlegungen zu einer digitalen Erinnerungspädagogik im Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus“ – und im Anschluss daran werden wir in einem offenen Forum mit KollegInnen den ersten virtuellen Zeitgeschichtetag Revue passieren lassen: Was ist gelungen, was nicht… was kann man davon bewahren, was möchte man lieber wieder ganz herkömmlich in einer Präsenzveranstaltung abwickeln? Tagungen leben nun einmal auch vom informellen und vollkommen ungeplanten Austausch in den Kaffeepausen. Das ist einfach so, lässt sich aber nur schwer im virtuellen Raum bewahren.

Der erste virtuelle österreichische Zeitgeschichtetag ist aus der Not heraus geboren und soll kein Signal dafür sein, dass wir in Zukunft immer nur virtuell tagen werden. Gleichzeitig ist aber auch klar: Im Sinne von Nachhaltigkeit kann es nicht schaden, wenn wir alle weniger fliegen und reisen. Insofern gibt es von diesem Format schon etwas zu lernen und mitzunehmen.