Eva Geiringer und Anne Frank
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75 Jahre

Anne Franks Wiener Stiefschwester

Die Geschichte Anne Franks ist weltweit bekannt. Gerade in Österreich wissen aber viele nicht, dass Anne eine Freundin und Stiefschwester aus Wien hatte. Ihr Name: Eva Geiringer. Eva aber überlebte Auschwitz und wohnt heute in London. Mit 90 Jahren kehrte sie nun erstmals an die Orte ihrer Kindheit zurück.

Beide Mädchen werden im selben Jahr geboren. Anne Frank am 12. Juni 1929 in Frankfurt am Main, Eva Geiringer ein Monat zuvor am 11. Mai in Wien. Beide Mädchen fliehen mit ihren Familien vor der Verfolgung durch den Nationalsozialismus nach Amsterdam. Familie Frank lebt dort seit 1934 am Merwedeplein, einem kleinen Platz im Süden Amsterdams. Familie Geiringer zieht 1940 gegenüber ein, am Merwedeplein 46.

Vater Erich Geiringer hat in Wien eine kleine Schuhfabrik besessen. Nach dem „Anschluss“ 1938 floh die Familie zuerst nach Belgien und schließlich in die Niederlande. Hier kommt es zur Begegnung zwischen Anne und Eva, beide sind elf Jahre alt. Eva Geiringer erinnert sich: „Sie kam am Merwedeplein auf mich zu und fragte, ob ich Deutsch spreche.“

Eva Geiringer mit 10 Jahren
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Eva Geiringer mit zehn Jahren

Am Merwedeplein wohnen viele jüdische Familien aus dem Dritten Reich. Die Familien Frank und Geiringer freunden sich an, die gleichaltrigen Kinder Anne, Eva und ihre sechzehnjährigen Geschwister Margot Frank und Heinz Geiringer verbringen viel Zeit miteinander. Eva Geiringer: „Wir sahen uns jeden Tag nach der Schule. Anne war quirlig, erzählte immer ihre Geschichten und flirtete mit den Burschen. Sie interessierte sich schon für Mode, ich kam mir neben ihr oft wie eine graue Maus vor. Nach den Erlebnissen der Flucht war ich schüchterner und verschlossen.“

Zwei Verstecke

Im Frühjahr 1940 erobert das Dritte Reich die Niederlande. Rassismus und Verfolgung holen die jüdischen Familien am Merwedeplein ein. Unter dem Österreicher Arthur Seyss-Inquart werden die Nürnberger Rassegesetze eingeführt. Die elfjährige Eva Geiringer will den Judenstern nicht tragen: „Ich weiß doch, dass ich jüdisch bin. Warum soll ich diesen Stern tragen!“

Die jüdischen Kinder dürfen nicht mehr in die niederländischen Schulen gehen. Anne Frank besucht eine jüdische Schule, Eva erhält Privatunterricht. 1940 beginnen die Deportationen in die Vernichtungslager. Beide Familien – Frank und Geiringer – beschließen, in ein Versteck zu gehen. Die Franks im Hinterhaus ihrer Firma in der Prinsengracht. Die Geiringers sind auf Hilfe des niederländischen Widerstands angewiesen. Sie verbringen die nächsten zwei Jahre in verschiedenen Verstecken in und um Amsterdam.

Bücher

Eva Schloss: Evas Geschichte. Anne Franks Stiefschwester und Überlebende von Auschwitz erzählt. Brunnen Verlag Gießen.

Eva Schloss: Amsterdam 11. Mai 1944. Das Ende meiner Kindheit. Eckhaus, Weimar 2015.

Am 11. Mai 1944, es ist der 15. Geburtstag Evas, stürmt die Gestapo das Versteck, die Geiringers wurden verraten. Eva erinnert sich an das Verhör im Gestapo-Gefängnis: „Ich weinte und konnte nicht antworten. Sie schlugen mich und drohten, meinen Bruder zu töten.“ Die Familie Frank wird eineinhalb Monate später gefasst. Beide Familien werden über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert.

Postume Stiefschwester

Bis heute kann Eva Geiringer detailliert davon erzählen, wie es einem fünfzehnjährigen Mädchen in Auschwitz erging, vom Eintreffen an der Rampe, von der Selektion durch Josef Mengele, von der Trennung von den Eltern, vom physischen wie psychischen Verfall: „Meine Geschichte erzählt Anne Franks Geschichte dort weiter, wo ihr Tagebuch endet.“

Eva Geiringer mit ihrem Ehemann Zvi Schloss
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Eva Geiringer mit ihrem Ehemann Zvi Schloss

Eva Geiringer wird am 27. Jänner 1945 in Auschwitz befreit, gemeinsam mit ihrer Mutter und Otto Frank, dem Vater von Anne Frank. Sie kehren nach Amsterdam zurück, wo sie erfahren, dass alle anderen Familienmitglieder ermordet wurden: Anne und Margot Frank, ihre Mutter Edith Frank-Holländer; Evas Bruder Heinz und ihr Vater Erich Geiringer.

1953 heiraten die überlebenden Eltern, Evas Mutter Elfriede und Annes Vater Otto. Eva wird so postum zur Stiefschwester Anne Franks. Otto und Elfriede Frank widmen den Rest ihres Lebens der Verbreitung von Anne Franks Tagebuch.

Zeit der Verdrängung

Eva Geiringer geht nach London, wo sie bis heute lebt. 40 Jahre lang verdrängt sie die Zeit im Versteck und im Konzentrationslager, will ihr eigenes Leben leben, will auch nicht für Medien und Historiker „Anne Franks Stiefschwester“ sein. Weder mit ihrer Mutter, die selbst Auschwitz überlebte, noch mit ihrem Ehemann Zvi Schloss oder ihren drei Töchtern kann sie über ihre traumatischen Erfahrungen sprechen.

Eva Geiringer mit ihren Töchtern in Großbritannien
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Eva Geiringer-Schloss mit ihren Töchtern

Ihre Kinder sind schon erwachsen, als sie in den Achtzigerjahren zu erzählen beginnt und ihre Geschichte niederschreibt: ihre Kindheit in Wien, ihre Jugend auf der Flucht und im Versteck, ihr Überleben im KZ, die Schwierigkeiten danach. Ihre Bücher sind internationale Bestseller, viele Vorträge und Interviews folgen. Allerdings nicht in Österreich: Eva Schloss: „Niemand hat mich eingeladen. Ich weiß auch nicht, ob ich gekommen wäre.“

Die 90-jährige Eva Geiringer bei ihrem Besuch in Wien
Robert Gokl, ORF
Die 90-jährige Eva Geiringer-Schloss bei ihrem Besuch in Wien

75 Jahre nach dem Ende des Krieges und der Befreiung aus Auschwitz war es so weit: Eva Geiringer-Schloss kehrte mit 90 Jahren erstmals an die Orte ihrer Jugend in Wien zurück. Und sie besuchte zum ersten Mal den Ort, an dem ihr Vater und ihr Bruder ermordet wurden: Das Nebenlager des KZ Mauthausen in Ebensee. Seit Kurzem erst kann sie wieder die deutsche Sprache benützen, ohne Widerwillen zu empfinden. Heute ist Eva Geiringer-Schloss „das Mädchen, das überlebte“ und noch erzählen kann: „Ich erzähle meine Geschichte, um an die Familien in ganz Europa zu erinnern, die Opfer der Nazis geworden sind. Aber religiöse Intoleranz, Hass und Diskriminierung von Minderheiten haben nicht aufgehört. Menschen, die sich dem Bösen verschreiben, wird es immer geben, aber die anderen, die das Gute wollen, werden immer in der Mehrheit sein.“