Appell

Experten: Andere Krankheiten nicht vergessen

Bei der virtuellen Jahresversammlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am kommenden Montag wird der Kampf gegen die Coronavirus-Pandemie alles andere in den Schatten stellen. Experten warnen, dass man darüber andere Infektionskrankheiten nicht vergessen sollten, die alljährlich Mio. Menschenleben kosten.

„Alles konzentriert sich auf den Kampf gegen Covid-19“, sagt Robin Nandy, der Leiter des Impfprogramms des UN-Kinderhilfswerks Unicef. „Die Gesundheitssysteme sind so belastet, dass mancherorts die Routineversorgung ausgesetzt wurde.“ Um Ansteckungen zu vermeiden, soll das Gesundheitspersonal möglichst wenig Kontakt mit Patienten haben, also auch nicht mehr impfen. 37 Länder haben laut Unicef ihre Impfkampagnen unterbrochen. 117 Millionen Kinder könnten deshalb an Masern erkranken. Eine Kinderkrankheit, die gerade in Gegenden mit schlechter Gesundheitsversorgung tödlich enden kann. Schon vor der Pandemie starben täglich mehr als 2.500 Kinder an bakterieller Lungenentzündung. Würden sie behandelt, könnten Studien zufolge mehr als 800.000 Todesfälle bei Kindern jedes Jahr verhindert werden.

In Nigeria sind Lungenentzündungen die hauptsächliche Todesursache bei Kleinkindern und es steht zu befürchten, dass durch die Coronavirus-Pandemie noch mehr daran sterben. „Es kommen viele Kinder mit Atembeschwerden, aber sowohl die Diagnose als auch die Behandlung sind für uns problematisch“, sagt Sanjana Bhardwaj, Unicef-Gesundheitsdirektorin in Nigeria. Die Demokratische Republik Kongo litt schon vor Covid-19 unter mehreren Epidemien. Seit Beginn des Masern-Ausbruchs im vergangenen Jahr starben daran dort 6.000 Menschen. Außerdem gibt es jedes Jahr etwa 13.000 Malaria-Tote. Zumindest die Ebola-Epidemie schien überwunden, doch dann wurden im April neue Fälle gemeldet. „Covid-19 hat die Gefahren, die es immer schon gab, noch verstärkt“, sagt Alex Mutanganyi von der Hilfsorganisation Save The Children.

Fehlende Mittel

Auch die Behandlung von Tuberkulose (TBC) wird durch die Corona-Pandemie erschwert. Weltweit könnten bis zu 1,4 Millionen Menschen zusätzlich daran sterben, befürchtet die Initiative Stop TB. Tuberkulose ist mit etwa zehn Millionen Neuinfektionen und 1,5 Millionen Todesfällen pro Jahr die weltweit tödlichste Infektionskrankheit. Dennoch wird deutlich weniger Geld in die Erforschung von TBC als von HIV oder Covid-19 investiert. Der einzige aktuelle TBC-Impfstoff ist mehr als 100 Jahre alt und wirkt nur bei sehr kleinen Kindern.

Die Entwicklung einer sicheren und universell einsetzbaren Impfung würde etwa 500 Millionen Dollar (461 Millionen Euro) kosten, sagt Lucica Ditiu von Stop TB. Zum Vergleich: In die Suche nach einer Impfung gegen das Coronavirus werden Milliarden Dollar investiert, etwa 70 mögliche Impfstoffe werden bereits an Menschen getestet. „Wir beobachten mit Erstaunen, dass für eine 120 Tage alte Krankheit schon 100 Impfstoffkandidaten in der Pipeline sind“, sagt Ditiu. Sie erklärt sich das Ungleichgewicht bei den Forschungsgeldern so: „Tuberkulose ist eine Krankheit der Armen.“

Probleme für chronisch Kranke

In vielen Ländern haben auch chronisch Kranke Nachteile durch die Coronavirus-Bekämpfung. Hunderte Millionen Menschen benötigen täglich Medikamente zum Beispiel gegen Diabetes oder Bluthochdruck. Die Allianz gegen nicht übertragbare Krankheiten rief Ende April die Regierungen auf, dafür zu sorgen, dass Betroffene trotz der Pandemie behandelt werden – zumal diese Krankheiten zu Komplikationen bei einer Sars-CoV-2-Infektion führen können.

Versorgungsengpässe bei den Medikamenten durch die Pandemie bedrohten auch HIV-Infizierte in Afrika südlich der Sahara, warnte die WHO am Montag. Sollten die Lieferketten für die antiretroviralen Mittel ein halbes Jahr unterbrochen bleiben, könnte sich demnach die Zahl der Aids-Toten verdoppeln. Die WHO und ihre Mitgliedsländer sind nun gefordert, solche Gefahren trotz der weltweiten Ausbreitung des Coronavirus nicht außer Acht zu lassen.