Marmurbüste von Homer
AFP – LEON NEAL
AFP – LEON NEAL
Radiokarbon-Datierung

Homer könnte 100 Jahre früher gedichtet haben

Frühe Phasen der griechischen Antike, die etwa die Epen des Homer, die Stadtstaaten oder das griechische Alphabet mit sich brachten, könnten 100 bis 150 Jahre länger zurück liegen als bisher gedacht.

Analysen von Funden aus Nordgriechenland von Archäologen der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) legen dies nahe. Im Fachblatt „Plos One“ stellen sie ihre Befunde für diese Zeitverschiebung vor.

Als „Ilias“ und „Odyssee“ geschrieben wurde

In der vor rund 3.000 Jahren beginnenden Früheisenzeit nahm die Entwicklung des antiken Griechenlands Fahrt auf: In diese Epoche fallen unter anderem die Gründungen der einflussreichen Kolonien im Mittelmeerraum, die Etablierung der Stadtstaaten (Polis) sowie weitere wichtige soziale und kulturelle Innovationen, die Europa lange prägen sollten. Auch die Homer zugeschriebenen Epen „Ilias“ und „Odyssee“ wurden vermutlich um das achte Jahrhundert vor Beginn unserer Zeitrechnung aufgezeichnet.

Diese oft als „Zeit des Homers“ bezeichnete Epoche wurde allerdings bereits vor rund 100 Jahren zeitlich eingeordnet, dies aber seither nicht systematisch mit neuen wissenschaftlichen Methoden überprüft, wie Stefanos Gimatzidis vom Österreichischen Archäologischen Institut (ÖAI) der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erklärte. Der Forscher hat sich in Kooperation mit Bernhard Weninger vom Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln daran gemacht, die bisherige Zeitrechnung auch mit naturwissenschaftlichen Daten aus der Radiokarbondatierung (C14-Methode) zu überprüfen. Gerade an der Chronologie der sogenannten protogeometrischen und geometrischen Perioden in Griechenland gebe es nämlich Zweifel.

Keramik prägt Datierung

Die bisherige historische Datierung beruht auf Scherben griechischer Keramikgefäße, die in Fundstätten wie Tell Abu Hawam, Megiddo und Samaria im heutigen Israel freigelegt wurden. Diese befanden sich in Zerstörungsschichten, die Hinweise auf kriegerische Auseinandersetzungen enthielten und anhand schriftlicher Quellen angeblich mit Präzision datiert werden konnten.

So wurde beispielsweise der Übergang von der protogeometrischen zu geometrischen Periode, die anhand von Keramikfunden definiert wurden, um 900 vor Christus angesetzt. Darauf basierend wurde dann die gesamte griechische Keramikabfolge der Früheisenzeit zeitlich eingehängt. „Für 100 Jahre war man dann mit der griechischen Chronologie zufrieden und sie bildete auch die Grundlage für die Chronologie des gesamten Mittelmeeres“, sagte Gimatzidis.

Attische Keramikkiste mit Miniaturimitationen von Getreidespeichern des Frühgeometrisch II aus Athen.
Stefanos Gimatzidis/ÖAW
Attische Keramikkiste mit Miniaturimitationen von Getreidespeichern des „Frühgeometrisch II“ aus Athen

Erst in den vergangenen Jahrzehnten haben Analysen mit der C14-Methode im Mittelmeerraum Schule gemacht, „aber nicht in der Ägäis“. Das lag daran, dass das Vertrauen in die bisherigen historischen Daten groß war. Neuere Untersuchungen ließen aber an den „Ankerpunkten der griechischen Chronologie im östlichen Mittelmeerraum“ zweifeln. „Das betrifft mit dem elften, zehnten, neunten und teilweise achten Jahrhundert vor Christus über drei Jahrhunderte“, so der Archäologe.

Funde nahe Thessaloniki ausgewertet

Anhand von Radiokarbondaten von zahlreichen organischen Fundstücken aus der sehr gut analysierten und in ihrer zeitlichen Abfolge (Stratigrafie) dokumentierten Grabungsstelle in Sindos nahe der nordgriechischen Metropole Thessaloniki gingen Gimatzidis und Weninger daran, die historischen Daten aus dem Nahen Osten zu überprüfen. Dass das in der Form bisher nicht passiert sei, liege vermutlich auch am Beharrungswillen vieler Forscherinnen und Forscher aus dem Fachgebiet und an den erstaunlich wenigen bisher freigelegten Siedlungen mit langen Stratigrafien aus der Früheisenzeit in der Ägäis.

Attische Amphora des Frühprotogeometrisch aus Athen.
Stefanos Gimatzidis/ÖAW

Attischer Krug des Spätgeometrisch I aus Athen

Da C14-Analysen meistens keine punktgenauen Angaben zulassen, brauchte es eine durchgehende Stratigrafie, um die Daten in ein statistisches Modell zu gießen. Zudem fanden sich in der Siedlung Sindos Keramikgefäße aus vielen Teilen Griechenlands, die Querverbindungen zu verschiedenen regionalen Chronologiesystemen ermöglichten, erklärte Gimatzidis.

Nun traue man sich zu sagen: „Wir haben zum ersten Mal empirische Daten, die präzise sind“ und „ganz überraschende Ergebnisse bringen“. Die als „Spätgeometrisch I“ bezeichnete Phase wurde bisher von 760 bis 735 vor Christus eingeordnet. Sie war der neuen Analyse zufolge deutlich länger „und beginnt um 870“, sagte Gimatzidis. Das würde auch die Datierung der früheren Epochen stark verschieben und wäre „eine ganz wichtige Korrektur im griechischen Chronologiesystem“.

Könnte in Ephesos überprüft werden

So könnten sich auch die Annahmen über den Beginn der griechischen Kolonisierung in Italien und in der Nordägäis oder die Komposition der homerischen Epen in ihrer heute bekannten Form verändern. Die neuen Daten könnten also den Blick auf mehrere historische Ereignisse und Prozesse im Mittelmeerraum verschieben, zeigte sich Gimatzidis überzeugt: „Wir haben hier einen guten Anfangspunkt.“

Die Wissenschaftler suchen nun nach weiteren Fundorten im ägäischen Raum, um ihre Datierungsvorschläge zu überprüfen. Vor allem die traditionsreichen österreichischen Grabungen im antiken Ephesos in der heutigen Türkei versprechen weitere Radiokarbondaten für diesen Zeitraum. „Selbst wenn unser Vorschlag so nicht hält, sind wir davon überzeugt, dass sich die konventionelle Chronologie in eine ähnliche Richtung ändern muss“, sagte der Archäologe.