Ausstellung: Ein Museumsbesucher betrachtet „Sitzender Männerakt (Selbstdarstellung)“ von Egon Schiele
ALEXANDER KLEIN/AFP
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Rezension

Der Körper der Moderne

In ihrem Buch “The Naked Truth" entwickelt die Kulturhistorikerin Alys George eine neue Lesart der Wiener Moderne. Der kulturelle Aufbruch im Fin-de-siècle hatte auch materielle Wurzeln: Zu finden sind sie im menschlichen Körper.

Sowohl in der populären Vorstellung als auch in der Forschungsliteratur wird die Kulturgeschichte der Wiener Moderne vordergründig in Bezug auf die Psychoanalyse betrachtet. Die weltbekannten Gemälde Klimts und Schieles – ausgestellt im Leopold Museum und im Belvedere – und die noch immer vielgelesenen Texte Hofmannsthals und Schnitzlers werden gewöhnlich als Ausdrücke des Unbewussten oder als Auseinandersetzungen mit der Psyche verstanden. Doch in diesem Zusammenhang bleibt der Körper – wo die Gedanken und Gefühle wohnen – immer wieder unberücksichtigt oder wird nicht ernst genommen.

Literaturwissenschaftler Matthew Johnson
IFK

Über den Autor

Der Autor dieser Rezension, Matthew Johnson, hat Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Judaistik in Chicago, Berlin und New York studiert und lehrt nun am Department of Germanic Studies an der University of Chicago. Im Studienjahr 2019/2020 war er Fulbright/Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK).

Buachautorin Alys George lehrt und forschst am Department of German der New York University. Auch sie hat am Wiener IFK einen Forschungsaufenthalt als Fulbright/Junior Fellow absolviert.

„The Naked Truth: Viennese Modernism and the Body“ (Chicago: University of Chicago Press, 2020).

Aus Sicht des „Homo physiologicus“

Wie sollen wir die nackten und verzerrten Leiber Schieles oder die ikonenhafte Nuda Veritas Klimts begreifen? Welche Rollen spielen Anatomie und Medizin in der literarischen Tätigkeit des Arztes Arthur Schnitzler oder in der Entwicklung der Psychoanalyse? Welcher andere Blick auf die Wiener Moderne lässt sich aus der Perspektive des Körpers gewinnen? Im neu erschienen Buch The Naked Truth: Viennese Modernism and the Body beschäftigt sich Alys George, Literaturwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin, mit solchen und anderen Fragen.

George erzählt eine alternative Geschichte der Wiener Kultur des Fin-de-siècle und der Zwischenkriegszeit. Sie konzentriert sich auf den Körper und seine vielfältigen Repräsentationen – als Lebewesen oder Leiche, als Kunst- und Wissensgegenstand oder als utopischer Ort. The Naked Truth spannt ein weites, vieldisziplinäres Feld, das die Literatur- und Kunstgeschichte, die darstellenden Künste wie Theater und Tanz, die Populärkultur, die Medizin- und Wissenschaftsgeschichte und die turbulente Politik dieser Zeit umfasst. Indem Georges Interesse nicht nur dem „Homo psychologicus“ gilt, den Carl Schorske in seiner einflussreichen Studie Fin-de-siècle Vienna: Politics and Culture (1979) als die Schlüsselfigur der Wiener Moderne identifizierte, sondern vor allem dem „Homo physiologicus“, eröffnet sie neue Perspektiven auf die Wiener Kultur. Damit beteiligt sie sich auch an einem wachsenden Forschungsfeld zu Körper und „Embodiment“ – zusammen mit u. a. Elaine Scarry, Karl Toepfer, Gabriele Brandstetter und (mit spezifischem Bezug auf die Wiener Moderne) Nathan Timpano.

Literarische Verkörperung

In vier umfangreichen und gründlich recherchierten Kapiteln verfolgt George die vernachlässigten Spuren des Körpers in Wien. Sie schildert die historisch verankerten Netzwerke, die von der Entstehung der zweiten Wiener Medizinischen Schule bis in die Zeit des Roten Wiens zwischen Ärzten und Intellektuellen aufgebaut wurden. So enthüllt George die somatischen Aspekte der Werke bekannter Schriftsteller wie Schnitzler, Peter Altenberg, Joseph Roth und Vicki Baum. Außerdem richtet sie ihr Augenmerk auf die Kadaver in Carry Hausers Grafiken und auf den „sichtbaren Körper“ in der Filmtheorie Béla Balázs’; auf Hofmannsthals Experimente mit Pantomime und Tanz; auf die Performances Josephine Bakers und Grete Wiesenthals; und auf die Körperkultur und die verschiedenen Formen der Körperpflege, die in dieser Zeit populär wurden. Die von ihr analysierten Hygiene-Ausstellungen und Filme finden angesichts der COVID-19-Pandemie besondere Resonanz.

Grete Wiesenthal tanzt im Freien
ONB/Lothar Rübelt

Zudem bringt George oft vergessene Figuren – vor allem Schriftstellerinnen und Tänzerinnen – ans Licht. Sie beleuchtet z. B. die wenig gelesenen literarischen Texte Marie Pappenheims, ihre in der Fackel veröffentlichten Gedichte und ein Libretto, das sie für ein musikalisches Monodrama Arnold Schönbergs verfasste. Pappenheims beruflicher Werdegang dient als Beispiel für die Verschränkung von Medizin und Kultur, denn nicht nur war sie eine der ersten Frauen, die das Medizinstudium in Österreich abschlossen; ihre Ausbildung – insbesondere ihre Erfahrungen in der Leichenautopsie – fand auch Eingang in Gedichte wie „Seziersaal“. Darüber hinaus begründete sie gemeinsam mit Wilhelm Reich die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung in Wien.

Ort des Schmerzes und der Verheißung

Parallel dazu bringt George Pappenheim in Verbindung mit Ilka Maria Ungar und Else Feldmann, die versuchten, die ignorierten Stimmen werdender (und oft armer) Mütter zu erfassen. Diese jüdischen Schriftstellerinnen brachen mit eingefleischten Tabus, wenn sie die Schwierigkeiten und das Elend der Schwangerschaft für die Arbeiterklasse darstellten. In diesem Zusammenhang zieht George auch einen kritischen und faszinierenden Vergleich mit Schieles Serie von Studien schwangerer Frauen an der Frauenklink der Universität Wien. So beschäftigt sich die Autorin intensiv mit ethischen und politischen Auswirkungen von Körpern und ihren Repräsentationen. Sie achtet auf die marginalisierten und minorisierten Körper von Frauen, Juden, Menschen der Arbeiterklasse und weiterhin auf die „zerbrochenen“ Körper der Kriegsinvaliden nach dem Ersten Weltkrieg. Überdies arbeitet sie die zutiefst rassistischen Völkerschauen im Wiener Prater auf, in welchen afrikanische Männer und Frauen – die sogenannten „Aschanti“ – zur Schau gestellt wurden.

In ihrem wegweisenden Buch malt Alys George ein neues Bild – mit dem Körper im Zentrum – einer viel studierten und oft missverstanden Epoche, ohne vor den dunklen Seiten und der „nackten Wahrheit“ zurückzuschrecken. Daher präsentiert George den Körper – und damit Wien – als Ort des Schmerzes und der Unterdrückung, aber auch als Ort des Vergnügens und der Verheißung. Um einen Begriff Musils zu verwenden, legt sie den Möglichkeitssinn des Körpers offen.