Frau (von hinten) blickt auf das Meer
Farknot Architect – stock.adobe.com
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Intervention

Ehrfurcht macht dankbar

Wie eine einfache psychologische Intervention das Wohlbefinden deutlich steigern kann, zeigt eine aktuelle US-Studie: Wer bei einem Spaziergang seine Aufmerksamkeit gezielt auf die Umgebung richtet und dabei Ehrfurcht empfindet, wird einfühlsamer und dankbarer.

Wenn einen der Anblick von Natur überwältigt, ein Kunstwerk tief berührt oder man bei einer Feierlichkeit im Bad der Menge versinkt, empfindet man Ehrfurcht – eine Mischung aus Staunen und Respekt, die einen innehalten und ganz klein werden lässt. Seit einigen Jahren interessieren sich nicht nur Theologen für das wundersame Gefühl, auch in der Psychologie werden seine Wirkungen untersucht; einer der Pioniere auf dem Gebiet ist Dacher Keltner von der University of California Berkeley.

Seine Forschungen zeigen, dass man sich in Ehrfurcht vor Dingen, die größer sind als man selbst, zwar unbedeutender fühlt als sonst, für das Wohlbefinden ist das Gefühl dennoch sehr nützlich – man fühle sich verbunden mit der Welt und es mache unter anderem bescheiden und großzügig, so der US-Psychologe in einer Aussendung zur soeben in „Emotion“ publizierten Studie, die Keltner mit Erstautorin Virginia Sturm und anderen Kolleginnen und Kollegen durchgeführt hat. Untersucht wurde dabei, ob man das Gefühl von Ehrfurcht gezielt hervorrufen und so das Wohlbefinden steigern kann.

Aufmerksam durch die Welt

Teilgenommen haben 52 gesunde über 65 Jahre alte Erwachsene (Hilblom Healthy Aging Study). Sturm forscht zu Demenzerkrankungen und zu deren Auswirkungen auf den Gefühlshaushalt. Negative Gefühle wie Ängste, Traurigkeit und Einsamkeit nehmen ab dem siebten Lebensjahrzehnt häufig zu. Das könne den kognitiven und körperlichen Abbau beschleunigen, erklärt die Forscherin. Deswegen habe man nach einer einfachen und günstigen Intervention gesucht. Sie sollte das subjektive Befinden und die Stimmung verbessern, indem sie die Aufmerksamkeit von Innen nach Außen lenkt.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden angehalten, acht Wochen lang jede Woche mindestens 15 Minuten spazieren zu gehen. Eine Hälfte wurde zudem aufgefordert, ihre Aufmerksamkeit während der Spaziergänge auf die Umwelt zu lenken und dabei das Gefühl von Ehrfurcht zu forcieren. Am Ende der wöchentlichen Übung wurden die Testpersonen jeweils befragt: zum Spaziergang, zu ihren Gefühlen, zur Ehrfurcht.

Spaziergänger in herbstlichen Wald
Julian Stratenschulte/dpa
Der Anblick der Natur kann ehrfürchtig machen

Im Lauf der Wochen ist das Gefühl von Ehrfurcht bei den meisten stärker geworden – Übung zahle sich also aus, betonen die Forscher. Die Probandinnen berichteten etwa von den wunderschönen Farben des Herbstlaubs oder vom angenehm weichen, regennassen Boden. Wie kleine Kinder bewegten sie sich zunehmend staunend durch die Welt. Die Aufmerksamkeit der Spaziergängerinnen und Spaziergänger aus der Kontrollgruppe war hingegen meist nach innen gerichtet. Sie berichteten etwa von Gedanken an Zukunftspläne und notwendige Erledigungen.

Das Ich schrumpft

Die Auswertung der Befragungen ergab, dass die Ehrfurchtsübung langfristig tatsächlich positive Wirkungen hatte. Im Lauf der Wochen wurde die Stimmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in dieser Gruppe merkbar besser: Positive Emotionen wie Mitgefühl, Dankbarkeit und Freude haben laut den Studienautoren deutlich zugenommen. An der Bewegung in der frischen Luft selbst dürfte das nicht gelegen sein, denn die Personen in der Kontrollgruppe hatten sich sogar häufiger auf den Weg gemacht – vielleicht weil sie vermutet hatten, es ginge in der Studie um Bewegung. Das zeige, dass die Ehrfurchtsgefühle gegenüber der Außenwelt maßgeblich sind für das steigenden Wohlbefinden.

Illustriert wird diese Entwicklung durch Selfies, die die Forscherinnen und Forscher eigentlich eher als Gag gedacht hatten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und sollten am Anfang, in der Mitte und am Ende jedes Spaziergangs ein Foto von sich machen. Nach den acht Wochen wurden die Bilder bzw. deren Veränderungen ebenfalls analysiert. Im Lauf der Studie wurden die Menschen auf den Fotos der „Ehrfurchts-Gruppe“ immer kleiner, sie zeigten mehr Landschaft. Die Gesichter wurden immer freundlicher, sie lächelten häufiger. Das „Sich-klein-fühlen“ im Angesicht der beeindruckenden Welt spiegelte sich also direkt in den Abbildungen – damit hatten die Forscherinnen und Forscher gar nicht gerechnet.

Die Effekte waren zwar nur moderat, aber sie ließen sich leicht erzeugen und wurden mit der Zeit stärker. Gleichzeitig sei die Intervention denkbar einfach und kostengünstig. „Ehrfurcht zu erleben, ist eine einfache Übung – man muss sich nur einen Augenblick Zeit nehmen, aus dem Fenster schauen und die Dinge, die uns umgeben, betrachten“, so Sturm. „Mehr Freude und etwas mehr Verbundenheit mit der Welt ist ein Gefühl, das wir alle dieser Tage gut gebrauchen können.“