Sprache

Einwandererkindern werden Sprachstörungen oft andiagnostiziert

Kindern mit Migrationshintergrund verpasst man häufig zu Unrecht die Diagnose „Sprachentwicklungsstörung“. Dabei haben die Kinder oft nur mit ihrer Zweitsprache Probleme, wie Forscherinnen der Medizinuni Wien berichten.

Mit dem „Wiener Modell“ der Sprachdiagnostik, das auf Unterstützung von Medizinstudenten mit der jeweiligen Muttersprache baut, kann man die beiden Fälle unterscheiden, schreiben sie im Fachjournal „Neuropsychiatrie“.

Beispiel eines fünfjährigen Buben

Die Forscher um Brigitte Eisenwort von der Ambulanz für Pädiatrische Psychosomatik der Meduni Wien berichten vom Fall des fünfjährigen Knaben Josef. Er spricht deutsch und russisch. Die Sprachverhältnisse in seiner Familie sind wohl nicht nur für Außenstehende unübersichtlich: Seine Eltern plaudern miteinander sowie mit Josef und seiner Schwester russisch, die Großeltern wuchsen mit Russisch als Erstsprache und unterdrückten Minderheitensprachen auf. Josef redet mit seiner Schwester deutsch und mit seinen Eltern russisch, lässt dabei aber immer wieder deutsche Wörter hineinrutschen. Die meisten seiner Klassenkollegen in einer Privatschule sprechen deutsch.

Seine Eltern kamen mit Josef in die Sprachambulanz, weil sie oft schwer verstehen konnten, was er ihnen mitteilen wollte. Dort wurden seine Probleme mit dem „Wiener Modell“ der Sprachdiagnostik untersucht. Das Besondere daran ist, dass Medizinstudenten, die die jeweilige Muttersprache der Kinder als Erstsprache beherrschen, gemeinsam mit den Linguisten und Linguistinnen die Sprachkompetenz der Kinder analysieren. „Das hat den Vorteil, dass neben den grammatikalischen Fähigkeiten auch kulturelle Eigenheiten erkannt werden“, so die Forscher.

Oft unvollständiger Erwerb der Zweitsprache

Bei rund vierzig untersuchten Kindern im Jahr 2019 zeigte sich mit dieser Methode, dass die Hälfte keine klinisch relevante Sprachentwicklungsstörung hatte, sondern zum Beispiel nur zu wenig von der Sprache ihrer Eltern mitbekommen hatte: „Viele Kinder mit Migrationshintergrund erhalten in ihrer Muttersprache einen eingeschränkten Input, da die Eltern selbst beispielsweise eine politisch unterdrückte Minderheitensprache als Muttersprache erworben haben und deshalb keinen reichen Wortschatz weitergeben können“, so Eisenwort.

„Sprachentwicklungsstörungen“ und „unvollständigen Zweitsprachenerwerb“ zu unterscheiden, ist alles andere als trivial, erklärte Eisenwort der APA: „Ein unterdurchschnittlicher Wortschatz in der Muttersprache kann Symptom einer Sprachentwicklungsstörung sein, oder Folge eines eingeschränkten Inputs, da die Eltern in der Migration nur noch einen kleineren Wortschatz verwenden als früher im Herkunftsland“. Ob ein klinisch unauffälliger, durch Migration entstandener unvollständiger Sprachgebrauch oder als pathologisch zu wertende Auffälligkeiten vorliegen, könnten nur Experten im Einzelfall erkennen.

Bei Josef diagnostizierten die Experten eine probate Sprachentwicklung in Deutsch, und eine Verzögerung beim Aneignen von Russisch. 15 Trainingseinheiten verbesserten die Kompetenz in seiner Muttersprache, berichten sie.