Pockenimpfung von Kindern im London des 19. jahrhunderts

Von den Pocken lernen

Die Pocken zählen zu den schlimmsten Infektionskrankheiten der Menschheitsgeschichte. Ein kanadischer Forscher hat jetzt Todesstatistiken aus den letzten 350 Jahren unter die Lupe genommen – und darin eine Parallele zur Coronavirus-Pandemie entdeckt.

Im Jahr 1980 erklärte die WHO die Welt als offiziell pockenfrei. Der Weg dorthin war ein langer und beschwerlicher. Allein im Jahr 1664 starben in London 320.000 Menschen an der von Variolaviren ausgelösten Krankheit. London ist auch jene Stadt, über die David Earn in seiner letzten Studie im Fachblatt „Plos Biology“ berichtet. In den Archiven der englischen Metropole lagern nämlich detaillierte Aufzeichnungen zu Todesfällen, aus denen der Epidemiologe und Mathematiker nun eine Chronik erstellt hat. Sie zeigt: Die Bekämpfung der Pockenepidemie erlitt immer wieder Rückschläge, unter anderem durch Kriege. Zwischenzeitliche Erfolge brachte eine riskante Behandlungsmethode: die „Impfung“ mit infektiösen Erregern.

Historische Aufzechnungen zur Pockenepidemie
Public Domain
Todesstatistik in London, 26. September 1665

science.ORF.at: Herr Earn, was war das Ziel Ihrer Studie und was haben Sie herausgefunden?

David Earn: Ich interessiere mich schon lange für die Muster, die Epidemien zugrunde liegen. London ist ein äußerst gut geeigneter Ort, um solche historischen Studien durchzuführen, denn dort wurden seit Mitte des 17. Jahrhundert die Todesursachen wöchentlich erfasst. Diese Aufzeichnungen haben wir digitalisiert und ausgewertet. So wurden unter anderem die Muster der Pockenepidemie sichtbar – eine horrible Krankheit, die über Jahrhunderte hinweg enorm viele Menschenleben gekostet hat. Was wir zum Beispiel beobachten konnten: Bis in die 1840er-Jahre gab es jährliche Ausbrüche, danach wurden die Zeiträume zwischen den Ausbrüchen länger. Das Ziel unserer Arbeit war, diese Strukturänderungen zu beschreiben und nach äußeren Ursachen zu suchen. Eine davon ist die sogenannte Variolation: die gezielte Infektion mit einer geringen Menge an Pockenviren, die – so hoffte man damals zumindest – keine tödliche Infektion auslösen und schlussendlich zur Immunität führen könnte. Und natürlich konnten wir in unserer Arbeit auch die Auswirkung der Pockenimpfung beschreiben. Diese Entdeckung gelang im Jahr 1796. Die Pocken waren übrigens die erste Krankheit, für die eine Impfung entwickelt wurde.

Pocken-Todesfälle in London von 1664 bis 1931
Olga Krylova & David J.D. Earn
Phasen der Pockenepidemie in London

Dass die Pockenimpfung einen Einfluss auf die Epidemie hatte, dürfte offensichtlich sein.

David Earn: Wenn die Bevölkerung durchgeimpft ist, ja. Dann verschwindet die Krankheit, wie das schlussendlich bei den Pocken auch der Fall war. Wie sich Epidemien bei bloß moderaten Impfraten verändern, ist hingegen nicht so offensichtlich. Es kann zum Beispiel sein, dass sich dann nur die Zyklen der Krankheit verlängern. Um das zu verstehen, müssen wir mathematische Modelle entwickeln.

Wie Sie in Ihrer Arbeit zeigen, scheinen Kriege die Pockenepidemie beeinflusst zu haben – interessanterweise auch solche, die fernab des britischen Königreichs stattfanden.

David Earn: Wir behaupten nicht, dass Kriege einen direkten Einfluss hatten. Aber es gibt eine zeitliche Übereinstimmung zu den Londoner Statistiken: Krieg bedeutet, dass sich der Kontakt zwischen Menschen massiv verändert. Es gibt eine große Zahl junger Männer, die in unmittelbarer Nähe viel Zeit miteinander verbringen. Das kann zu einer Übertragung unter den Soldaten und letztlich auch zu einem Überspringen der Krankheit auf die Zivilbevölkerung führen. Im Jahr 1871 kam es etwa in London zu einer verheerenden Pockenepidemie – ein Ereignis, das mit dem Deutsch-Französischen Krieg zusammenfällt.

Aber Großbritannien war in diesem Krieg neutral, somit auch nicht beteiligt.

David Earn: Das stimmt, wir können Wirkung und Ursache auch nicht beweisen. Es ist eine Korrelation. Aber es ist plausibel, dass der Krieg zu einem Ausbruch geführt hat und es dann zu einer Verbreitung der Krankheit in ganz Europa kam.

Welchen Effekt hatte die Variolation? Hat die Methode funktioniert?

David Earn: Menschen, die durch Variolation behandelt wurden, hatten im Vergleich zur natürlichen Infektion ein geringeres Sterberisiko. Ob das auch für den Verlauf der Epidemie positiv war, ist schwer zu sagen. Denn diese Methode führt auch zur Gefahr, dass sich die Übertragungsrate erhöht. Wir können aus unseren Daten jedenfalls keine Reduktion der Erkrankungsfälle ablesen.

Was die Variolation angeht, stellen Sie auch einen Bezug zur gegenwärtigen Coronavirus-Pandemie her. Worin besteht der?

David Earn: Das Argument bei der Variolation lautet: Wenn man Patienten nur eine kleine Menge infektiöses Material verabreicht, entwickeln sie nur eine milde Form der Krankheit. Dass mit dieser Methode bei Covid-19 keine Studien durchgeführt wurden, ist klar, so etwas wäre ethisch nicht vertretbar. Aber man kann auch den Einsatz von Masken als eine Art von Variolation betrachten: Wenn Sie einen Nasen-Mund-Schutz tragen und husten, dann wird die Zahl der ausgestoßenen infektiösen Partikel geringer sein. Sofern Sie dabei jemanden anstecken, könnte das zu einer milderen Infektion führen als normalerweise. Das wurde zum Beispiel im Oktober im „New England Journal of Medicine“ diskutiert.

Wenn Sie einen Blick auf die Muster der Covid-19-Pandemie werfen: Was hätte man anders oder besser machen können?

David Earn: Im Rückblick ist man natürlich immer gescheiter. Dass sich strikte Lockdowns als effektiv erweisen, ist offensichtlich. Die Frage ist nur: Wie wäge ich das gegen die negativen Konsequenzen für die Wirtschaft, für die psychische Gesundheit der Bevölkerung und so weiter ab? Das ist kein triviales Problem. Diese Frage hängt übrigens auch davon ab, wie groß die Akzeptanz in einer Bevölkerung gegenüber den gesetzten Maßnahmen ist. Da gibt es große Kulturunterschiede – und das sehen wir auch in den Statistiken. Leider haben wir keine Kristallkugel zur Verfügung, um verschiedene Szenarien in ein- und demselben Land durchspielen zu können.

Wie schätzen Sie die Situation in Ihrem Nachbarland, den USA, ein?

David Earn: In den USA gab es widersprüchliche Botschaften, ich denke da vor allem die Wortmeldungen des Präsidenten. Das hat dem Land geschadet. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Der Zustand ist weit von dem entfernt, was man sich wünschen würde.

Wird es möglich sein, durch Impfung zu einer Herdenimmunität zu gelangen?

David Earn: Für Kanada halte ich es für realistisch, dass wir eine hohe Impfrate erreichen werden. Was die USA angeht, erscheint mir das weniger wahrscheinlich. Die wichtige Frage ist allerdings: Verhindert die Impfung auch Ansteckungen? Das wäre notwendig, um die Herdenimmunität zu erreichen. Ob die Impfungen diesen Effekt haben, ist leider noch nicht klar.

Ihr Ausblick auf das Jahr 2021?

David Earn: Ich hoffe, dass sich die Impfungen als effektiv erweisen und dass wir im Verlauf des Jahres zu einem normalen oder normaleren Leben zurückkehren werden. Mehr kann ich nicht sagen – es gibt noch immer viele Unsicherheiten.