Immunität: Genauer Prozentsatz unbekannt

60, 70 oder doch mehr als 90 Prozent? Wie viele Menschen müssen gegen das Coronavirus geimpft sein oder nach einer Infektion auf natürliche Weise eine Abwehr entwickelt haben, damit die Ausbreitung der Krankheit aufhört? Die Antwort auf diese Frage hat viele Unbekannte.

So ist bisher nicht klar, ob die zugelassenen Impfstoffe auch davor schützen, das Virus an andere weiterzugeben. Generell könnten Viren, die sich wie Sars-CoV-2 unmittelbar auf der Nasenschleimhaut oder in den oberen Atemwegen befinden, schnell wieder ausgehustet oder -geniest und damit weitergegeben werden, sagt Luka Cicin-Sain vom deutschen Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung.

Auch gebe es Einzelfälle, in denen sich schon einmal Erkrankte rasch erneut mit dem Virus ansteckten. Wie lange der Impfschutz halten werde, könne niemand wirklich sagen. Der Schutz nach einer Infektion könnte aber kürzer sein als der durch eine Impfung, erklärt Cicin-Sain.

Ansteckendere Variante ein Faktor

Ein weiterer Faktor ist, dass sich das Coronavirus stetig verändert. Die zunächst in Großbritannien und dann auch in anderen Ländern nachgewiesene Mutation B.1.1.7 zum Beispiel ist nach derzeitigem Kenntnisstand deutlich ansteckender – das heißt, ein Infizierter steckt im Schnitt mehr Menschen an, was wiederum die Ausbreitung des Erregers beschleunigt.

Der Anteil an Geimpften in der Bevölkerung müsse dann steigen, um eine sogenannte Herdenimmunität erreichen zu können, erklärt der Mediziner Cicin-Sain. Mit dem Begriff wird ein Zustand bezeichnet, bei dem ein großer Teil der Gesellschaft – durch Infektion oder Impfung – immun gegen eine ansteckende Krankheit ist. Der Erreger findet dann immer weniger Menschen, in denen er sich vermehren kann, seine Ausbreitung wird deutlich vermindert.

Zwischen 60 und 90 Prozent

Für eine Herdenimmunität beim Coronavirus galt anfangs eine Durchseuchungs- oder Impfquote von 60 bis 70 Prozent als nötig. Wegen all der Unwägbarkeiten jedoch scheint dieser Wert manchen Expertinnen und Experten zu gering. Anthony Fauci etwa, der bekannteste Infektiologe der USA, meinte etwa in einem Interview Ende Dezember, das der Wert bei bis zu 90 Prozent liegen könnte – und schraubte damit seine zuvor verkündeten Einschätzungen deutlich nach oben.

Hajo Zeeb vom deutschen Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie meint, dass bei der neuen Virusvariante nach den bisher vorliegenden Daten 80 Prozent der Bevölkerung immun sein müssten, „um die weitere Ausbreitung im Sinne der Herdenimmunität zu verhindern“. Zu beachten sei darüber hinaus, dass die Ausbreitung sehr variabel verlaufe, beispielsweise punktuell recht gewaltig durch sogenannte Superspreading-Ereignisse.

Nicht alle können geimpft werden

Warum Herdenimmunität wichtig ist, macht Cicin-Sain deutlich: Es gebe Menschen, die nicht geimpft werden können, etwa weil sie an Leukämie erkrankt seien oder ihnen ein Organ transplantiert worden sei und sie immunhemmende Medikamente nehmen müssten. „Sie können nur durch Herdenimmunität geschützt werden“, sagt der Wissenschaftler. Den Anteil Betroffener schätzt er auf ein bis zwei Prozent.

Alle Angaben zur Herdenimmunität basierten bisher auf Vermutungen, betont Cicin-Sain. Die anfangs genannten 60 bis 70 Prozent hält auch er für recht optimistisch. „Das ist zwar besser als nichts, aber ein höherer Anteil wäre besser.“ Er spricht von 80, 85, vielleicht sogar 90 Prozent. Zum Vergleich: Masern sind deutlich ansteckender als alle bisher bekannten Mutationen des Coronavirus. Hier ist eine Impfrate von über 90 Prozent nötig.

Das Coronavirus wird bleiben

„Die Botschaft muss sein: Diejenigen, die Zugang zum Impfstoff haben, sollten nicht zögern, sich impfen zu lassen“, sagt Cicin-Sain. Mediziner Zeeb ist etwas zurückhaltender: Er würde nicht ausschließlich das Ziel (kompletter) Herdenimmunität über alles stellen, erklärt er. Wenn 60 oder 70 Prozent der Bevölkerung geschützt wären – und vor allem die Risikogruppen – würde das enormen Druck vom Gesundheitssystem und der Gesellschaft nehmen.

Corona werde bleiben, aber sich in den Reigen der anderen Infektionskrankheiten einreihen, ist Zeeb überzeugt. Mit weiteren Impfungen, hoffentlich besseren Therapien und gegebenenfalls doch auch ausreichender Impfbereitschaft, wenn sich alles etwas normalisiert habe.