„Mtoto“: Rekonstruktion der Knochen eines Kindes aus der Steinzeit
Jorge González/Elena Santos
Jorge González/Elena Santos
Steinzeit

„Mtoto“, das schlafende Kind

Forscher und Forscherinnen haben in Kenia die 78.000 Jahre alten Überreste eines bestatteten Kindes entdeckt. Der Fund gibt Einblick in die Kultur der Mittelsteinzeit: Bereits damals bedienten sich unsere Vorfahren symbolischer Handlungen – und nahmen Abschied von verstorbenen Verwandten.

Ab wann Homo sapiens sich Dingen zuwandte, die über den offensichtlichen Überlebenszweck hinausgehen und sich eher in seinen Vorstellungen als in der physischen Welt verorten lassen, lässt sich wohl nicht an einem bestimmten Datum festmachen. Was den Mensch zum Menschen macht, könne man jedenfalls auch daran ablesen, wie er mit den Verstorbenen umgeht, sagt Michael Petraglia.

Der Fund, den der Anthropologe vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena mit seiner Institutskollegin Nicole Boivin gemacht hat, gibt Zeugnis dieses entscheidenden Übergangs: In der Höhle Panga ya Saidi, 15 Kilometer von der Küste Kenias entfernt in einer Übergangszone von Tropenwald und Savanne, haben Petraglia und Boivin vor acht Jahren die Überreste eines dreijährigen Kindes entdeckt, das später „Mtoto, das schlafende Kind" genannt wurde. „Mtoto“ (Suaheli für Kind) wurde auf der rechten Seite liegend mit an die Brust angezogenen Beinen beerdigt.

Dabei handelt es sich um die bislang ältesten Spuren einer Bestattung auf dem afrikanischen Kontinent. Und um den Beweis dafür, dass Menschen bereits in der Mittelsteinzeit „die Toten so behandelt haben wie die Lebendigen“, so Petraglia. Oder, um eine Anleihe bei dem Kulturphilosphen Ernst Cassirer zu nehmen: um den Beleg dafür, dass sich der moderne Mensch schon zu dieser Zeit zum Animal symbolicum entwickelt hatte mit all den Riten und Symbolen, die bis heute typisch sind für unsere Art.

Entdeckung nach der Entdeckung

Die auf ein paar Absätzen in der aktuellen Ausgabe von „Nature“ beschriebenen Funde lassen kaum erahnen, wie aufwändig und langwierig die Ausgrabungen des internationalen Forschungsteams tatsächlich waren. Erstmals entdeckt wurde die Höhle Panga ya Saidi im Jahr 2008. „Als wir die Höhle mit ihrer eingestürzten Decke zum ersten Mal sahen, waren wir hin und weg. Wir wussten sofort, dass es sich um etwas ganz Besonderes handelt“, erzählte Nicole Boivin letzten Montag bei einem Online-Seminar. Besonders war der Fundort zunächst deshalb, weil die Sedimente nebst zahlreichen Tierknochen auch Spuren menschlicher Zivilisation aus der Eisenzeit freigaben.

Eingestürzte Höhle mit dichtem Pflanzenbewuchs: Archäologische Fundstätte Panga ya Saidi
Mohammad Javad Shoaee
Panga ya Saidi, Kenia

Doch das war nur der Anfang. In tieferen Schichten legten Boivin und ihr Team immer ältere Fundstücke frei, bis sie schließlich in drei Metern Tiefe auf 78.000 Jahre alte menschliche Zähne stießen. Das dazugehörige Skelett war so zerbrechlich, dass eine normale Ausgrabung nicht möglich war, ohne die Fundstücke zu beschädigen.

Blick ins Innere des Erdreichs

Als auch der Versuch der Stabilisierung mit Hilfe einer Acrylschicht scheiterte, entschied sich das Team, das Erdreich als Block auszugraben und ans Forschungszentrum für Humanevolution in Burgos, Spanien, zu schicken, wo María Martinón-Torres mit Hilfe tomografischer Methoden das Innere des Sediments sichtbar machte. Die Untersuchungen der forensischen Anthropologin belegen: „Mtoto“ wurde in Tierhaut oder Pflanzenmaterial eingewickelt und vorsätzlich in Schlafposition ins Grab gelegt. Eine Position, die offenbar in der Folgezeit beibehalten wurde und sich demensprechend in vielen Gräbern jüngeren Datums wiederfindet, etwa bei den 31.000 Jahren alten Zwillingen von Wachtberg, die 2005 in Niederösterreich entdeckt wurden.

3-D-Viusalisierung: Rekonstruktion von „Mtotos“ Position im Grab
Jorge González/Elena Santos
Rekonstruktion von „Mtotos“ Position

Bemerkenswerterweise handelt es sich bei dem Fund aus Kenia nicht um den weltweit ältesten. In Spanien und in Israel wurden Gräber freigelegt, die auf bis zu 120.000 Jahre vor unserer Zeit datiert wurden – dieser Umstand stellt das Forscherteam vor ein Rätsel: Könnte es sein, dass die Bestattungsriten moderner Menschen zunächst in Eurasien entstanden sind und erst später in der Wiege der Menschheit, auf dem afrikanischen Kontinent?

Das wäre möglich, sagt Michael Petraglia. „Es könnte aber auch sein, dass wir es mit einer Stichprobenverzerrung zu tun haben. Schließlich waren Archäologen in den letzten 150 Jahren vor allem in Europa und im Nahen Osten aktiv.“ Emmanuel Ndiema, ein an der Studie beteiligter Forscher von den Nationalmuseen in Kenia, neigt der zweiten Variante zu. Die Ausgrabungen in der Höhle seien noch lange nicht abgeschlossen, betont er. „Wer weiß, vielleicht stoßen wir in nächster Zeit auf noch ältere Fundstücke?“