Jenseitsvorstellungen sind kulturelle Imaginationen außersprachlicher Existenzwelten, die jenseits der kognitiven Wahrnehmungsgrenze liegen und sich somit jeglicher Wissenschaftlichkeit entziehen. Obwohl es den Menschen erst bei ihrem Tode zugänglich wird, ist das Jenseits keine auf das irdische Leben folgende diachrone Raumzeit, sondern eine synchrone Konstante, die nicht nur Tod und Sterben definiert, sondern vielmehr den kulturellen Umgang mit dem Leben widerspiegelt.

Über die Autorin
Kristina Hutter studierte Ägyptologie an der Universität Wien. Sie ist Lehrbeauftrage am Ägyptologischen Institut und Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien.
Daher sind es primär soziokulturelle Prozesse, die diese jenseitigen Existenzwelten in der kulturellen Imagination entstehen lassen, nach deren Prinzipien nicht nur gestorben, sondern vor allem gelebt wird.
Älteste Schriften über das Jenseits
Im alten Ägypten war Wissen vom Jenseits und den Geheimnissen der Magie keine Glaubensfrage, sondern ein wichtiges Know-how, um den eigenen Tod zu überleben. Bereits im 24. Jahrhundert v.u.Z. – und lange vor den ersten Totenbüchern – wurde ein solches Wissen im Rahmen der Bestattungspraktiken angewandt und zum ersten Mal in den Pyramiden von Sakkara monumental niedergeschrieben.
Die altägyptischen Pyramidentexte gelten heute als die bisher ältesten überlieferten religiösen Schriften weltweit. Das in moderner Zeit zusammengestellte Textkorpus umfasst etwa 900 Kurztexte (sogenannte Sprüche), die in altägyptischer Sprache verfasst sind. Sie wurden über einen Zeitraum von etwa 160 Jahren beginnend um ca. 2350 v.u.Z. in die Kalksteinwände der Pyramidenkammern in Hieroglyphenschrift eingemeißelt.

Sprachlich kodierte Jenseitsreise
Die Pyramidentexte beschreiben ein Jenseits, das den Verstorbenen nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern über einen Grenzbereich der Bewusstwerdung führt, der im Übergangsritual überwunden werden muss. Diese Jenseitsreise findet in einer sprachlich kodierten Raumzeit statt, die einerseits mythologisch verankert ist und andererseits auf die geografische Umgebung und Himmelslandschaft des damaligen Niltals verweist.
Dabei wird die imaginierte Jenseitswelt an Ereignisse aus der Kulturlandschaft wie etwa der Nilflut und dem Lauf der Gestirne gekoppelt und – weil das Jenseits durch den Tod nicht nicht-erfahrbar ist – über eine körperliche Wahrnehmbarkeit verstanden. Die Übergangsreise weist dadurch viele räumliche Eigenschaften auf, die durch metaphorische Annäherungen versprachlicht werden und ein verstehensrelevantes Wissen voraussetzen, das deren Sinnzusammenhänge bedingt.

Verkörperung der Todeserfahrung
In den Pyramidentexten treffen verschiedene Jenseitsmomente zusammen. Die Verstorbenen wollen vor allem in die Bewegungsabläufe der Himmelslandschaft eingebunden werden. Das kosmologische Weiterleben am Tages- und Nachthimmel reicht dabei von solaren Vorstellungen durch das Erreichen des Sonnengottes bis zu einer stellaren Existenz unter den unvergänglichen Zirkumpolarsternen am Nordhimmel. Dafür muss aber zuerst der Tod überwunden werden.
Veranstaltung
Kristina Hutter hält am 15. November 2021, 18:15 Uhr, am IFK einen Vortrag mit dem Titel „Wisdom Dwells in Pyramids“. Jenseitslandschaften in den altägyptischen Pyramidentexten.
Die Todeserfahrung wird durch eine Zergliederung des Körpers und die damit einhergehende Auflösung in verschiedene Komponenten versinnbildlicht. Die Ambiguität der Todesfigur resultiert dabei aus dem Verhältnis zwischen der Diskontinuität durch Zergliederung und (Re)Integration einerseits und der Kontinuität durch eine prozessuale Transformation andererseits, die mittels der Bewusstwerdung der Verstorbenen bewirkt werden soll. So werden im Text die Toten direkt angesprochen, dass sie nicht tot seien. Sie werden aufgefordert, sich zu erheben, ihre Fesseln abzulösen und die Erde abzuschütteln, sie sollen sich den Kopf aufsetzen und sich erinnern.

Jenseitiger Mikrokosmos
Der rituelle Charakter und die materielle Präsenz der Pyramidentexte an den Wänden der Pyramidenkammern erzeugt eine Vielzahl an sinnstiftenden Beziehungen. In diesem Spannungsverhältnis zwischen dem schriftlichen Verweisen und der architektonischen Umsetzung wird Grenzüberschreitung zwischen dem Diesseits und dem Jenseits aus zwei Perspektiven gedacht: einerseits in der Mythologisierung der real vorhandenen Pyramidenräumlichkeiten und andererseits in der architektonischen Reproduktion transzendenter Raumvorstellungen.
Die Verschränkung von Pyramidentexten und dem Pyramidenraum wirkt dadurch wie eine eingeschlossene Raumzeit, die durch das schöpferische Wirkpotential von Architektur, Wort und Bild eine Realität schafft, deren Zweck es ist, einen jenseitigen Mikrokosmos des Verstorbenen zu errichten.