Gefaltetes Protein
Jeff Fitlow/Rice University
Jeff Fitlow/Rice University
„Breakthrough“

Revolutionäre Technik für CoV-Analysen

Seit Kurzem gibt es eine neue Technik, die klärt, wie Proteine aussehen und funktionieren. Die auf Künstlicher Intelligenz (KI) beruhende Technik wird etwa eingesetzt, um die Omikron-Variante des Coronavirus besser zu verstehen. Das Fachmagazin „Science“ kürte sie nun zum „wissenschaftlichen Durchbruch des Jahres“.

„Er ist einer der größten aller Zeiten, sowohl in Bezug auf die wissenschaftliche Leistung als auch mit Blick auf dadurch mögliche künftige Forschungen“, schreibt „Science“-Chefredakteur Holden Thorp. Er zieht einen Vergleich zur Genschere Crispr, die die Gentechnik revolutioniert hat.

Mit der KI-Technik lassen sich etwa die Auswirkungen von Mutationen auf die Form des Spike-Proteins, mit dem das Coronavirus an Körperzellen andockt, modellieren. Eine geänderte Form könnte dazu führen, dass menschliche Antikörper nicht mehr so gut binden können und der Immunschutz nachlässt.

Verständnis für biologische Abläufe verbessern

Ob das tatsächlich bei Omikron so ist, ist noch unklar. Klar ist, dass die nun ausgezeichnete KI-Technik eine wichtige Rolle bei der Klärung wichtiger Grundsatzfragen spielen kann – auch weitab der aktuellen Pandemie. Denn bisher wusste man nur von einem kleinen Teil von Proteinen – essenziellen Bestandteilen des Körpers -, wie sie aussehen und was sie genau machen.

Mit Hilfe der neuen KI-Software, die dreidimensionale Strukturen von Proteinen mit hoher Genauigkeit errechnen, ändert sich das gerade rasant. Kenne man die Gestalt und damit auch die Funktion der Proteine, ließen sich biologische Abläufe im Körper und Krankheiten besser verstehen, erklärt der deutsche Biochemiker Andreas Bracher. Auch bei der Suche nach neuen Medikamenten helfe dieses Wissen, so Bracher. So wollen Fachleute mit Hilfe des neuen Ansatzes Wirkstoff-Kandidaten entwickeln, die genau auf bestimmte Proteine abgestimmt sind.

Bisherige Forschung sehr zeitaufwendig

Proteine sind winzig klein, man kann diese Eiweiße selbst unter dem Mikroskop nicht sehen. Bisher war es deshalb sehr aufwendig und teuer, mit Methoden wie Röntgenkristallographie und Kryoelektronenmikroskopie ihren Aufbau zu erforschen. „Science“ zufolge kann das Entschlüsseln einer einzelnen Proteinstruktur auf herkömmliche Weise Jahre dauern und Hunderttausende Dollar kosten.

"Bei vielen Proteinen des Menschen wusste man deshalb bisher nicht, wie sie aussehen“, so Andreas Bracher vom Max-Planck-Institut für Biochemie in Martinsried. Bisher sind nur für gut ein Drittel der Proteine des Menschen experimentell bestimmte Strukturen in einer Datenbank hinterlegt – in vielen Fällen davon sind auch nur Teilbereiche untersucht.

Selbstlernende KI

Mit den neuen Programmen – AlphaFold and RoseTTAFold – braucht es nun keinen großen Aufwand mehr (bei Rosetta@home kann man selber mitmachen). Ein Team um den AlphaFold-Entwickler John Jumper, der für die auf künstliche Intelligenz spezialisierte Google-Schwester Deepmind arbeitet, hat bereits Strukturen für fast alle menschlichen Proteine vorgelegt. Das Fachblatt „Nature“ zählt Jumper in seiner aktuellen Top-10-Liste zu den derzeit maßgebenden Wissenschaftlern auf der Welt. Sein KI-gestütztes Programm trainiert sich praktisch selbst mit Hilfe von Datenbanken, in denen bereits erforschte Proteinstrukturen hinterlegt sind.

Struktur eines menschlichen Proteins, durch AlphaFold modelliert
APA/AFP/EMBL-EBI/Handout
Struktur eines menschlichen Proteins, durch AlphaFold modelliert

Proteine bestehen aus langen Ketten, die eine Art definiertes Knäuel bilden und dann bestimmte Aufgaben erfüllen. So können manche Proteine (Enzyme) Zuckermoleküle spalten, andere sind Strukturelemente unserer Muskeln. Die Ketten werden von hintereinander aufgereihten Bausteinen gebildet, den sogenannten Aminosäuren. Deren Abfolge ist durch unser Erbgut vorgegeben. Insgesamt gibt es dort rund 20.000 Gene, auf denen die Aminosäurenabfolge für verschiedene Proteine festgelegt ist. Bei der Faltung zum Knäuel spielen unter anderem Anziehungskräfte zwischen den Aminosäuren eine Rolle.

Aminosäuresequenz für 3-D-Modell

Kennen Forscherinnen und Forscher ein spezifisches Gen, können sie daraus auf dem Papier oder am Computer die Aminosäurekette eines Proteins ableiten – schon seit Jahrzehnten. Allerdings war es bisher nicht möglich, ohne weiteres die genaue Form und den Aufbau des Proteinknäuels zu bestimmen. „Die ist aber entscheidend, um die Wirkungsweise eines Proteins verstehen zu können“, erklärt Bracher, der selbst mit AlphaFold arbeitet.

Die neuen, für Forscher frei zugänglichen Programme schließen nun genau diese Lücke. Ihnen reicht die durch das Erbgut vorgegebene Aminosäuresequenz eines Proteins, um ein dreidimensionales Modell zu erstellen, wie Bracher erklärt. „Hat man früher Jahre daran gearbeitet, um die Struktur eines Proteins aufzuklären, reicht es jetzt, eine Aminosäuresequenz in den Computer einzugeben.“

Weitere positive Entwicklungen – und negative

Neben dem „Durchbruch des Jahres“ zählt die Fachzeitschrift „Science“ neun weitere wissenschaftlichen Entwicklungen auf, die das Wissenschaftsjahr 2021 prägten: darunter eine neue Methode der Urgeschichtsforschung, mit der menschliche DNA aus dem Erdreich gewonnen werden kann, Studien zu Psychedelika mit dem Potenzial, die Behandlung von psychischen Störungen zu revolutionieren, Daten der NASA-Sonde „InSight“ zum Inneren des Mars, die Herstellung von Vorläufern menschlicher Embryonen ohne Befruchtung sowie Fortschritte bei der Entwicklung von Medikamenten gegen das Coronavirus.

Kein Licht ohne Schatten: Zu den negativen Entwicklungen des Jahres („breakdowns“) zählt „Science“ die schwindende Hoffnung, das ambitionierte 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, den Streit um das neue Alzheimer-Medikament mit dem Wirkstoff Aducanumab und die wachsende Bedrohung, der Forscherinnen und Forscher im Zuge der Coronavirus-Pandemie ausgesetzt sind.