Illustriertes deutsches Manuskript mit dem Artusroman Wigalois. Universitätsbibliothek Leiden
CC-BY University Library Leiden
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Literatur

Die verlorenen Schriften des Mittelalters

Die mutigen Ritter der Tafelrunde und die Erlebnisse des sagenumwobenen Wikingers Ragnar Lodbrok faszinieren Jung und Alt bis in die Gegenwart. Nicht alle der mittelalterlichen Helden- und Rittererzählungen sind aber bis heute erhalten. Wie eine Studie zeigt, sind wahrscheinlich über 90 Prozent der damals entstandenen Handschriften bereits verloren.

Ob das im Stein steckende Schwert Excalibur, die Suche nach dem heiligen Gral oder Legenden über Siegfried den Drachentöter – Gelehrte im Mittelalter haben viele Heldenepen und Geschichten niedergeschrieben, die sich heute noch großer Beliebtheit erfreuen. Zahlreiche moderne Film- und Fernsehproduktionen handeln von mittelalterlichen Überlieferungen, Erzählungen über die Ritter der Tafelrunde kennen viele bereits im Kindesalter.

Ein Team von Forscherinnen und Forschern aus mehreren europäischen Ländern hat nun genauer untersucht, wie viel fiktive Literatur aus dem Mittelalter im Laufe der Zeit verschwunden ist. Das Ergebnis präsentieren sie aktuell im Fachjournal „Science“.

Modell für seltene Tierarten

Für die Berechnungen nutzte das Team ein Modell aus der Ökologie zur Zählung seltener und verschwundener Tierarten. Es auch für literarische Werke zu nutzen, war dabei kein Problem. „Das Modell mit dem Namen ‚Chao1‘ kann eigentlich für alle Bereiche verwendet werden, in denen es Objekte gibt, die man zählen kann“, erklärt die an der Untersuchung beteiligte Literaturwissenschaftlerin Elisabeth de Bruijn von der Universität Antwerpen gegenüber dem ORF. Originale Werke wurden vom Team dabei wie Tierarten behandelt, deren handschriftlichen Kopien wie einzelne Sichtungen der Tiere.

Große Verluste

Literatur über mittelalterliche Sagen und Geschichten zu vervielfältigen war bis zur Erfindung des Buchdrucks reine Handarbeit. Nicht alle der daraus entstandenen Manuskripte sind bis heute erhalten. Das Forscherteam zeigt anhand einer Modellrechnung auf, dass wahrscheinlich rund 90 Prozent der handschriftlichen Kopien bereits verschwunden sind. Ein Ergebnis, dass auch Schätzungen früherer Untersuchungen ähnelt.

Erstmals konnten die Forscherinnen und Forscher aber auch berechnen, dass über die Jahrhunderte hinweg viele originale Romane und traditionelle Heldengeschichten in Europa verschwunden sind. „Unsere Modellrechnung hat ergeben, dass wahrscheinlich rund 32 Prozent der originalen Texte verloren gegangen sind“, so De Bruijn. Viele Geschichten über den bekannten König Artus oder andere Legenden des Mittelalters seien so heute gänzlich unbekannt.

Der Roman im Bischofshut

„Es gibt viele Gründe für das Verschwinden von mittelalterlicher Literatur“, sagt De Bruijn und ergänzt: „Es gab im Laufe der Jahre Bibliotheks-Brände, Kriegsverluste, die Reformation, Vernachlässigung, Wasserschäden und vieles mehr.“

Fragment von Strengleikar als Bischofshut
CC-BY Suzanne Reitz, Den Arnamagnæanske Samling (Copenhagen).

Das Forscherteam beschreibt in der Studie auch einen etwas kuriosen Fall zerstörter Literatur. Überreste eines Romans wurden in einem Bischofshut gefunden – das langlebige Pergament diente scheinbar dazu, das religiöse Gewand zu stärken. „Dieser Fund ist natürlich eine Ausnahme. Er zeigt aber, dass es auch im Mittelalter so etwas wie eine Kreislaufwirtschaft gegeben hat“, so die Literaturwissenschaftlerin. Anstatt Texte wegzuwerfen wurden sie hin und wieder zerschnitten und recycelt.

Große Unterschiede in Europa

Die Forscherinnen und Forscher untersuchten im Rahmen der Studie Werke in sechs Sprachen – Deutsch, Englisch, Irisch, Isländisch, Französisch und Niederländisch. Dabei stellten sie fest, dass es nicht in allen Sprachräumen gleich starke literarische Verluste gab. „Wir haben große Unterschiede innerhalb Europas festgestellt. Weniger als 50 Prozent der niederländischen, englischen und französischen Literatur ist heute noch bekannt“, so De Bruijn, die ergänzt: „Für die deutschsprachige, isländische und irische Literatur sieht es besser aus – dort sind etwa 80 Prozent der originalen Werke erhalten.“

Warum so viel der deutschsprachigen Literatur erhalten ist, sei noch ungewiss und in weiteren Untersuchungen zu klären. De Bruijn vermutet: „Eine mögliche Erklärung könnte darin liegen, dass es im deutschsprachigen Raum schon früh ein gewisses Bewusstsein für Literatur gegeben hat und die Werke und handschriftlichen Kopien gut und sicher in Klöstern und Bibliotheken aufbewahrt worden sind.“ Laut dem Forschungsteam waren Kopien deutscher Literatur im Mittelalter außerdem geografisch weiter verbreitet als etwa Manuskripte englischer Werke.

Weniger Verluste auf Inseln

Neben den eher geringen Verlusten im deutschsprachigen Raum sind auch Werke aus Island und Irland bis heute vergleichsweise gut erhalten. „Hier gibt es natürlich eine Menge an nachmittelalterlichen Erklärungen. Vielleicht wurden die Inseln im Laufe der Zeit weniger von Naturkatastrophen, Bränden oder Kriegen beeinflusst“, erklärt De Bruijn.

Anfang der mittelalterlichen irischen Geschichte Cath Leithreach Ruibhe. Dublin, Royal Irish Academy
CC-BY Royal Irish Academy (Dublin)
Der Anfang der mittelalterlichen irischen Erzählung „Cath Leithreach Ruibhe“

Die Autorinnen und Autoren konnten im Rahmen der Studie aber auch herausfinden, dass die Anzahl an Kopien irischer und isländischer Werke gleichmäßiger verteilt war als bei anderssprachiger Literatur. „Diese Gleichmäßigkeit – also, dass von unterschiedlichen Werken immer relativ gleich viele Kopien gemacht wurden – ist sicher auch ein Grund dafür, dass die Insel-Literatur generell besser überlebt hat“, so De Bruijn. Wenn von einem Werk viele, von einem anderen jedoch nur wenige Kopien gemacht werden, sei die Chance größer, dass eines der beiden Werke im Laufe der Zeit verschwindet.

Aussagekraft mittelalterlicher Forschung

Dass nur ein Bruchteil der handschriftlichen Kopien erhalten ist und viele originale mittelalterliche Texte bereits verschwunden sind, sei vor allem für die Wissenschaft relevant. „Wir können nur etwas über die Werke sagen, die wir heute noch haben. Wir wissen aber nie, wie repräsentativ die noch erhaltenen Quellen tatsächlich sind“, so De Bruijn. Laut der Literaturwissenschaftlerin sei es durchaus möglich, dass die bereits verlorenen Romane und Heldenepen ein anderes Bild der mittelalterlichen Kultur zeichnen, als vielen von uns heute bekannt ist.

Die Literaturwissenschaftlerin wird weiter untersuchen, wie sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Sprachräumen erklären lassen. Sie hofft außerdem, dass das vom Forscherteam erprobte Modell künftig auch für weitere literarische Untersuchungen genutzt wird. „In unserer Untersuchung haben wir uns auf fiktive Werke, Romane und Heldenepen konzentriert – es wäre aber sicher auch interessant, zum Beispiel die Verluste religiöser Texte zu berechnen“.