Florence Nightingale inmitten von Verletzten
ARTE/ORF/Tohubohu
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Pflegeproteste

Florence Nightingale demonstriert mit

In vielen Ländern Europas demonstriert das Pflegepersonal für bessere Bezahlung, mehr Wertschätzung und Anerkennung. Florence Nightingale würde dabei mitmarschieren, sagen Expertinnen. Sie ist nicht nur eine Ikone des Pflegewesens, sondern hat mit Mathematik und Statistik die heutige Pflegewissenschaft mitbegründet.

Die Forderung nach fairen Arbeitsbedingungen und angemessener Entlohnung im Pflegebereich ist spätestens seit der Pandemie in der Öffentlichkeit stark präsent. Erst vergangene Woche hat sich das Gesundheitspersonal neuerlich zu Protesten vor Spitälern und Gesundheitseinrichtungen versammelt.

Sendungshinweis:

Universum History, „Florence Nightingale – Pionierin des Lazaretts“, 4.3., 22:35, ORF 2

Die Forderung, Pflegearbeit als schwierigen und verantwortungsvollen Beruf anzuerkennen, geht mehr als 100 Jahre zurück: Den Grundstein dafür gelegt hat Florence Nightingale, die in der Pflegewissenschaft bis heute und Ikone gilt. „Die Forderungen von heute sind zwar andere, decken sich aber im Wesentlichen mit jenen vor mehr als 100 Jahren: Anerkennung der Professionalität der Pflege und vernünftige Rahmenbedingungen“, sagt Hanna Mayer, Professorin an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems und Lehrende am Institut für Pflegewissenschaften der Uni Wien.

Demo von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Gesundheits-, Pflege- und Sozialbereich im November 21 in Graz
APA/ERWIN SCHERIAU
Demo von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Pflegebereich im November 21 in Graz

Florence Nightingale – Pionierin des Lazaretts

Krimkrieg, 1854: Das russische Zarenreich kämpft gegen das osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien sind involviert. Abseits der Front, in einem Krankenlager in Scutari, in der Nähe des heutigen Istanbul, sterben verwundete Soldaten an Fieber und Hunger. Es gibt kein warmes Wasser, sie siechen in ihren Exkrementen dahin. Zeitungsberichte über die desaströsen Zustände schlagen vor allem in England hohe Wellen, und die britische Königin Victoria muss reagieren. Sie schickt eine Flotte von Krankenpflegerinnen nach Scutari. An vorderster Front: die 34-jährige Florence Nightingale.

Reformerin und Managerin

Porträtfoto von Florence Nightingale
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Florence Nightingale

Die ausgebildete Krankenschwester registriert, dass viele Soldaten an Infektionen sterben und nicht an ihren Verletzungen. Sie macht sich sofort daran, ihre Vorstellungen von Hygiene und professioneller Pflege umzusetzen. Sie organisiert ihr Team mit militärischer Disziplin, etabliert systematisches Händewaschen und regelmäßiges Wechseln der Verbände. Sie erkennt, dass neben der medizinischen Versorgung auch Nähe und Mitgefühl zum Heilungsprozess beitragen. Gespräche mit den Verwundeten und Vorlesen aus Briefen werden in den Behandlungsalltag integriert. Es gelingt ihr tatsächlich, die Sterberate spektakulär zu senken. „Ärzte behandeln Krankheiten, wir behandeln Menschen“, so ihr programmatischer Ausspruch, mit dem sie in die Geschichte eingehen wird.

Universum History: Florence Nightingale – Pionierin des Lazaretts

Unterbewertung der Pflege – damals wie heute

Obwohl Florence Nightingale vorrangig organisiert und dabei auch nicht zimperlich ist, wird sie im Lauf des 20. Jahrhunderts als weibliche Klischeefigur hochstilisiert. Als „weißer Engel“ oder „Dame mit der Lampe“, die des Nächtens die verletzten Männer umsorgt, scheint sie das perfekte Bild der selbstlosen Frau zu erfüllen.

Zeitgenössische Darstellung von Nightingale als „The Lady with a Lamp“
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„The Lady with a Lamp“

„Die Institutionalisierung des Pflegeberufs ist eng verknüpft mit dem Krieg, – die Männer kämpfen, die Frauen rücken als Pflegerinnen ein“, sagt die Historikerin Christa Ehrmann-Hämmerle von der Uni Wien. „Mit der Feminisierung der Krankenpflege geht auch eine komplette Unterbewertung einher.“ Laut gängiger Rollenvorstellungen liegt das Pflegen und Umsorgen in der Natur der Frauen – so sehr, dass erwartet wird, dass sie es freiwillig machen. Unterbezahlung und Unterbewertung des Pflegeberufs sind die Folge – bis in die Gegenwart: 85 Prozent der Pflegekräfte sind weiblich und unterbezahlt.

Rebellion und Berufung

Die Ironie dabei ist, dass Florence Nightingale alles andere als eine angepasste Frau war: Sie weigert sich zu heiraten, wie es von einer großbürgerlichen jungen Britin erwartet wird. Sie folgt ihrem inneren Ruf, den Leidenden zu helfen. Ihre Zielstrebigkeit ist bemerkenswert: Sie baut sich ein weitreichendes Netzwerk auf, schreibt zahlreiche Briefe, in denen sie bessere Bedingungen in den Lazaretten fordert und übt damit erfolgreich massiven Druck auf die Politik aus.

Nach ihrem Einsatz auf der Krim nützt Florence Nightingale die im Lazarett gewonnenen Erfahrungen, um die Krankenpflege grundlegend zu reformieren und zu professionalisieren. Sie entwickelt völlig neue Standards der Hygiene, begründet eine Schule und Ausbildungsstätte für Krankenpflege. „Sie etabliert die Pflege als Profession, für die man nicht einfach nur zwei Hände braucht, sondern eine fundierte Ausbildung“, sagt Hanna Mayer.

Krankenschwestern in Ausbildung
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Krankenschwestern in Ausbildung

Mit Zahlen und Statistik zur Wissenschaft

Ihr Wissen hält Nightingale in zahlreichen Publikationen fest. Viele ihrer Erkenntnisse stützen sich auf Zahlen – als begabte Mathematikerin entwickelt Nightingale aussagekräftige Diagramme und führt die visuelle Darstellung von Statistiken im Pflegebereich und in Krankenanstalten ein. Für diese bahnbrechenden Verdienste wird sie als erste Britin zum Ehrenmitglied der Königlichen Statistischen Gesellschaft ernannt. Sie ebnet damit auch den Weg der Pflege in die Forschung – und legt den Grundstein für die heutigen Pflegewissenschaften. Die Rolle der Forschung sieht sie vor allem darin, die wissenschaftliche Basis für politische Entscheidungen im Gesundheitsbereich zu treffen – wie sie es selbst Zeit ihres Lebens tut.

Care-Revolution – Frauensolidarität heute und damals

Doch auch heute werden die Erkenntnisse aus den Pflegewissenschaften von der Politik weitgehend ignoriert. So ortet Hanna Mayer vor allem in Krisenzeiten eine Tendenz zur De-Professionalisierung: Immer wieder sei die Rede davon, Ausbildungen zu verkürzen und mehr Personal auf Assistenz-Ebene einzusetzen – das Gegenteil dessen, was Florence Nightingale unter bestmöglicher Pflege verstand; nämlich einen Beruf, in dem eigenständige Entscheidungen getroffen werden und nicht unhinterfragt zugearbeitet wird.

Wäre Florence Nightingale bei den aktuellen Protesten mitmarschiert? „Wir können natürlich nur spekulieren, aber ich glaube, sie wäre mitmarschiert, und zwar in vorderster Reihe“, ist Hanna Mayer überzeugt, „und nicht nur das, sie wäre diejenige gewesen, die die Proteste organisiert hätte“.