Eine Frau sitzt am Ufer des Donaukanals
APA/HERBERT NEUBAUER
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Lockdown

Junge, finanziell nicht Abgesicherte besonders gestresst

Während eines Lockdowns sind vor allem junge und finanziell nicht abgesicherte Personen gestresst – ältere Menschen lassen sich ihre positive Stimmung aber auch davon oft nicht verderben. Auf dieses Ergebnis kamen Forscherinnen und Forscher der Universität Wien. Sie erhoffen sich künftig gezieltere Behandlungen für mentale Probleme.

Die CoV-Pandemie hat den Alltag vieler schlagartig verändert – nicht zuletzt durch die von den Regierungen verhängten Lockdowns und Ausgangsbeschränkungen. Von einem Tag auf den nächsten war es plötzlich nicht mehr möglich, vom Büro aus zu arbeiten oder Bekannte zu treffen – Faktoren, die sich schließlich auch auf die Psyche und Stimmung der einzelnen Individuen auswirken.

Wie sehr sich Stresslevel und Stimmung im Lauf eines Lockdown-Tages verändern, hat nun ein Forschungsteam um den Neurowissenschaftler Claus Lamm und die Psychologen Urs Nater und Giorgia Silani von der Universität Wien untersucht. Die daraus entstandene Studie präsentieren die Forscherinnen und Forscher aktuell im Fachjournal „Proceedings of the Royal Society B“.

Echtzeitdaten durch Handy-App

Wie die Expertinnen und Experten selbst einräumen, hat es schon mehrere Studien gegeben, in denen Stress während der CoV-Pandemie untersucht wurde. Die Ergebnisse daraus seien aber oft ungenau, da sie auf den Informationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst beruhen. Grundsätzlich sei das kein Problem, aber wie Giorgia Silani gegenüber science.ORF.at erklärt: „Die Personen haben meist erst nach dem Lockdown angegeben, wie sie sich gefühlt haben – also retrospektiv.“ Im Nachhinein seien Berichte über das eigene Empfinden aber oft verzerrt und nicht mehr akkurat.

Um diesem Effekt entgegenzuwirken, hat das Team der Universität Wien einen anderen Weg gewählt, um an brauchbare Daten zu kommen. Die Expertinnen und Experten nutzten eine Smartphone-App, mit der sie fünfmal täglich Echtzeit-Beurteilungen von über 730 Personen sammeln konnten – und das über einen Zeitraum von sieben Tagen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie kamen aus Österreich, Deutschland und Italien. Auch sie mussten ihr Stresslevel und ihre Stimmung in der App selbst beschreiben, jedoch zeitnaher als bei früheren Untersuchungen auf dem Gebiet.

Individuelle Unterschiede

Als Untersuchungszeitraum wählten das Forschungsteam die Zeit von April bis Mai 2020. Mit den umfangreichen Daten konnte in weiterer Folge untersucht werden, wie sich die Stresslevel und die Stimmung der einzelnen Personen im Tagesverlauf verändert haben.

Dabei fanden sie klare Hinweise, dass beim Umgang mit schwierigen Situationen wie einem Lockdown auch individuelle Charaktereigenschaften eine große Rolle spielen. So seien laut den Autorinnen und Autoren der Studie etwa das Alter, Geschlecht oder der finanzielle Status relevant. Depressive Symptome, die auch schon vor dem Lockdown existierten, und allgemeine Einsamkeit seien ebenfalls wichtige Faktoren.

Junge Personen eher gestresst

Unter normalen Umständen und bei einem gesunden Individuum wäre es so, dass der Stress eher früh am Tag groß ist – erst zum Abend hin sinkt das Stresslevel ab. Dieser Rhythmus sei für einen produktiven Tag ausschlaggebend, erklärt Silani: „Sind wir am Abend weniger gestresst, können wir auch besser schlafen und sind am nächsten Tag fitter für den Alltag.“ Bei der Stimmung sei hingegen normalerweise das Gegenteil der Fall. In der Früh sind viele Personen schlechter gelaunt als am Abend.

Wie sehr hier aber individuelle Charaktereigenschaften eine Rolle spielen, zeigt Silani in einem Beispiel auf: „Bei jungen Personen, die finanziell nicht wirklich abgesichert sind, waren die Stresslevel grundsätzlich oft höher als bei anderen Individuen. Außerdem hat der Stress bei ihnen im Lauf des Tages weniger stark abgenommen.“ Auch bei Personen, die grundsätzlich mit Depression oder Einsamkeit zu kämpfen haben, waren die Stresslevel konstant höher als bei anderen Individuen.

Positive Einstellung mit fortschreitendem Alter

Auch bei der allgemeinen Stimmung spielen die individuellen Eigenschaften einer Person eine Rolle – zum Beispiel das Alter. So sind ältere Personen laut den Studienergebnissen grundsätzlich oft positiver eingestellt. Ihre Stimmung schwankte auch während der Lockdown-Tage weniger stark als bei anderen Individuen.

Aber auch das Geschlecht sei ausschlaggebend: Zwar wiesen Männer höhere Stresswerte im Alltag auf als Frauen, Frauen berichteten im Tagesverlauf allerdings von mehr Energielosigkeit und Müdigkeit. Laut den Expertinnen und Experten erreichen Frauen ihren Stimmungshöhepunkt außerdem früher am Tag als Männer.

Wie sehr der Charakter verschiedenen Personen dabei hilft, mit Situationen wie einem Lockdown klarzukommen, erklärt Silani so: „Circa 46 Prozent der Unterschiede zwischen zwei Personen in Sachen Stress und Stimmung sind auf die individuellen Charaktereigenschaften zurückzuführen.“ Der Rest käme von äußeren Einflüssen, wie etwa Terminen, sportlichen Aktivitäten oder dem Medienkonsum.

Weniger Stresshormon in Haarproben

Die Forscherinnen und Forscher sammelten auch Haare von 140 Probandinnen und Probanden um darin das gemeinhin mit Stress in Verbindung stehende Hormon Kortisol zu suchen. Die Annahme lag nahe, dass Lockdown-Stress auch zu mehr Kortisol in den Haaren führt. Zur Überraschung der Experten fanden sie aber meist eine geringere Konzentration als bei vergleichbaren Untersuchungen vor Lockdowns.

Silani: „Kortisol steht zwar in Zusammenhang mit Stress, es wird aber grundsätzlich immer dann produziert, wenn wir etwas machen – sei es ein vielleicht stressiges Projekt für die Arbeit oder auch einfach nur Sport.“ Die geringeren Kortisolwerte erklärt sich die Psychologin daher unter anderem mit der geringeren Anzahl an Aktivitäten, die im Lockdown möglich waren.

Das Ergebnis deckt sich auch mit der bisherigen Literatur, die Anstiege der Kortisolwerte in erster Linie bei in der Pandemie besonders herausgeforderten Personengruppen nachwies, wie beispielsweise bei Personal im Gesundheitswesen.

Für bessere Behandlungsmöglichkeiten

Generell seien noch viele weitere Untersuchungen nötig, um die Auswirkungen von Lockdowns auf die menschliche Psyche genauer zu verstehen. So räumt Silani selbst ein, dass Daten aus Zeiten vor der CoV-Pandemie fehlen, um die Ergebnisse des Forscherteams akkurat vergleichen zu können. Aussagen, ob sich der Stress von zum Beispiel jungen Personen im Lockdown generell erhöht hat, könnte man demnach noch nicht treffen.

Wichtig sei das Ergebnis der Untersuchung aber vor allem für Personen, die mit mentalen Problemen, Depressionen oder extremem Stress zu kämpfen haben. Besser zu verstehen, wann im Tagesverlauf Stresslevel besonders hoch sind und wann die Stimmung am Tiefpunkt ist, könnte künftig bei der Behandlung dieser Probleme helfen.