Symbolbild Misophonie
Andrea Piacquadio, Pexels, CC0
Andrea Piacquadio, Pexels, CC0
Misophonie

Wenn Geräusche unerträglich werden

Geräusche müssen nicht unbedingt laut sein, um zur Belastung zu werden. Für Menschen, die von Misophonie betroffen sind, können schon alltägliche Geräusche wie Schmatzen, Räuspern und Rascheln unerträglich werden – und Ekel, Wut und sogar Verzweiflung auslösen.

Die Bürokollegin, die einen Apfel kaut oder mit dem Kugelschreiber klickt, eine Katze, die mit einem Sackerl raschelt, der knurrende Magen des Partners – bei wem bei Geräuschen wie diesen Ärger und Ekel aufsteigen, der könnte von Misophonie betroffen sein.

Um den Lärmpegel geht es bei der Geräuschintoleranz nicht: Es muss kein lautes Schmatzen sein – hörbare Kau-, Schlürf- und Schluckgeräusche reichen schon aus, ebenso wie Summen, Pfeifen, Räuspern und andere Geräusche, die aus Mund, Nase und Rachen kommen. Doch nicht nur Geräusche, die andere Menschen mit ihrem Körper machen, auch das Ticken einer Uhr, das Brummen eines Kühlschranks und das Rascheln und Klappern von Gegenständen, können bei von Misophonie Betroffenen negative Reaktionen auslösen.

Betroffene geben sich oft selbst Schuld

Für eine aktuelle Studie des King’s College in London wurden 768 Personen gebeten, ihre emotionale Reaktion auf bestimmte Geräusche und deren Intensität auf einer Zehnpunkteskala zu beschreiben. Das Ergebnis: Die häufigste Reaktion auf einen Trigger, also ein Misophonie auslösendes Geräusch, ist Ärger. Betroffene fühlen sich zudem gefangen und hilflos, wenn sie dem Geräusch nicht ausweichen können. Außerdem suchen sie die Schuld für ihre starken Reaktionen oft bei sich selbst.

Im Rahmen der Studie wurde ein Fragebogen entwickelt, der dem Forschungsteam zufolge künftig medizinisches Personal, das im Bereich der Misophonie arbeitet, unterstützen soll.

Keine anerkannt Krankheit

Wie viele Menschen in Österreich von Misophonie betroffen sind, sei bisher nicht erfasst, denn die Geräuschintoleranz „ist ein eher neues Konzept“ und bisher nur wenig erforscht, sagt Johannes Wancata, Leiter der Klinischen Abteilung für Sozialpsychiatrie der MedUni Wien. Zwar befasse sich auch die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde mit Misophonie, grundsätzlich werde sie aber eher dem Fachbereich Psychatrie zugeordnet.

Eine anerkannte Krankheit sei die Misophonie nicht: „Es werden Symptome und Symptomgruppen beschrieben und wie weit sich diese im Alltag bemerkbar machen“, so Wancata im Interview mit science.ORF.at. Ein Symptom alleine mache noch keine Krankheit – „eine Kombination von Symptomen, die so ausgeprägt sind, dass sie im Alltag relevante negative Folgen haben“ hingegen schon.

Ursachen unklar

Bei der Suche nach möglichen Ursachen für die Geräuschintoleranz müsse man unterscheiden, ob die Symptome alleine auftreten oder als Teil von Erkrankungen. Denn die Symptome, die bei der Misophonie beschrieben sind, werden immer wieder auch als Symptome anderer Erkrankungen beobachtet, wie etwa bei Schizophrenie und Angststörungen, so Wancata. In diesem Fall seien sie Teil dieses Krankheitsbildes. „Bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, erleben wir zum Beipiel immer wieder, dass Menschen auf manche – auch akustische – Außenreize sehr empfindlich reagieren. Dass sie die sehr intensiv erleben und dass dies Stress verursacht.“

Tritt Misophonie aber unabhängig von einer psychiatrischen Erkrankung auf, könne man noch sehr wenig über mögliche Ursachen sagen. „Es wird vermutet, dass es biologische Faktoren haben könnte, aber belegt ist es bisher nicht“, so Wancata. Und auch zu möglichen Behandlungen gebe es kaum Forschung, eine Studie deute aber darauf hin, dass kognitive Verhaltenstherapie hilfreich sein könnte. Bei dieser Therapieform wird die aktive Gestaltung des Wahrnehmungsprozesses in den Vordergrund gestellt: Durch Selbstbeobachtung sollen Betroffene ihrer Wahrnehmung – in diesem Fall der Belastung durch akustische Trigger – aus eigener Kraft gegensteuern.

Benennung kann Erleichterung schaffen

Die Studie aus England ergab jedenfalls, dass nur ein kleiner Teil der Probandinnen und Probanden den Begriff „Misophonie“ vor der Umfrage überhaupt kannte. Und das bezeichnet Studienleiterin Silia Vitoratou als eine der wichtigsten Erkenntnisse aus der Studie: „Es bedeutet, dass die meisten Menschen, die von Misophonie betroffen sind, keinen Namen dafür haben, um zu beschreiben, was sie erleben.“

Misophonie sei mehr als nur Ärger über bestimmte Geräusche, ergänzt Koautorin Jane Gregory von der Universität Oxford: „Es geht darum, dass man sich gefangen und hilflos fühlt, wenn man diesen Geräuschen nicht entfliehen kann. Es geht um das Gefühl, dass etwas mit einem nicht stimmt, weil man auf Geräusche reagiert.“ Herauszufinden, dass man nicht alleine damit ist, dass auch andere Menschen auf diese Weise auf Geräusche reagieren, und dass es für das, was man erlebt, einen Namen gibt, könne daher schon „eine deutliche Erleichterung“ sein.