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Analyse

Suchtrends in Russland zu Putin und Krieg

Wie denken Menschen in Russland über die Regierung im Kreml und den Krieg in der Ukraine? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hat ein britisches Forschungsteam Suchanfragen im Internet analysiert. Die Studie zeigt einen großen Unterschied zwischen den Suchtrends und offiziellen Daten russischer Meinungsforschungsinstitute – und eine in der Bevölkerung verbreitete „stillschweigende Ablehnung“.

Die Analyse der täglich von Millionen Russinnen und Russen verwendeten Suchbegriffe, ergab, dass "die „Begeisterung für den Krieg begrenzt ist“, so die Forscherinnen und Forscher der Universitäten Cambridge und Surrey. Zudem habe in der Bevölkerung eine „stillschweigende Ablehnung“ zugenommen. Die Studie deute darauf hin, dass das Wohlbefinden in Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine stark gesunken ist – ganz im Gegensatz zu offiziellen Daten russischer Meinungsforschungsinstitute.

„Umfragen von Instituten zeigen, dass der Krieg die Moral verbessert hat, aber unsere Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Stimmung in der Bevölkerung auf dem niedrigsten Stand seit einem Jahrzehnt ist“, so Studienautor Roberto Foa von der Universität Cambridge in einer Aussendung.

Suchtrends vs. Umfrageergebnisse

Um die öffentliche Stimmung in Russland zu messen, analysierte das Forschungsteam Daten, die von 2012 bis April 2023 täglich über den Onlinedienst Google Trends gesammelt wurden, und glich diese mit den Suchdaten des russischen Technologieriesen Yandex ab. Dies zeigte, dass die Suchtrends in den Jahren vor Russlands Großinvasion in der Ukraine im Februar 2022 eng mit den Daten russischer Meinungsforschungsinstitute wie WZIOM und dem Levada-Zentrum übereinstimmten.

Das Meinungsforschungsinstitut WZIOM wurde 2003 verstaatlicht. Der damalige Leiter Juri Lewada gründete daraufhin das Lewada-Zentrum, das heute das einzige vom Staat unabhängige Meinungsforschungsinstituts Russlands ist, und 2016 vom Kreml 2016 als „ausländischer Agent“ eingestuft wurde.

Seit dem Frühjahr 2022 weichen die Ergebnisse von beiden Instituten aber stark von der Analyse der Suchanfragen ab. Die Suchtrends zeigten, dass sich die öffentliche Stimmung verschlechterte, und die Suche nach Begriffen, die laut dem Forschungsteam mit „stillschweigender Ablehnung“ in Verbindung stehen, stark anstieg.

In den Umfragen sowohl von WZIOM als auch vom Lewada-Zentrum stiegen die Zustimmungswerte für den russischen Präsidenten Wladimir Putin hingegen auf 80 Prozent, und die selbst angegebene Lebenszufriedenheit erreichte Anfang 2023 einen neuen Höchststand in der Bevölkerung. „Die nackten Zahlen, sagen für sich allein genommen wenig aus“, sagte der wissenschaftliche Leiter des Lewada-Instituts, Lew Gudkow, vergangenes Jahr im ORF-Interview und ordnete die Umfrageergebnisse ein.

„Schlaflosigkeit“, „Konkurs“, „George Orwell“

Die britischen Forscherinnen und Forscher verfolgten in ihrer Analyse u. a. die Häufigkeit, mit der bestimmte Wörter im Internet gesucht wurden: Begriffe, die auf das Wohlbefinden hinweisen, wie „Schlaflosigkeit“ und „Depression“, und Begriffe, die in Zusammenhang mit persönlichen finanziellen Notlagen stehen, wie „Konkurs“ und „Zwangsräumung“.

Auch systemkritische Schriftsteller wie George Orwell, der in „1984“ einen totalitären Überwachungsstaat skizziert, und Alexander Solschenizyn, der in „Der Archipel Gulag“ die Verbrechen des stalinistischen Regimes der Sowjetunion beschreibt, wurden häufig in Suchmaschinen eingegeben. Die Analyse umfasste zudem Suchanfragen nach Namen von Putin-Kritikern, etwa des 2015 ermordeten Boris Nemzow und des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny, der seit 2021 eine mehrjährige Gefängnisstrafe absitzt.

Putler, Putin, Ukraine, Russland, Krieg
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Transparent mit der Aufschrift „Putler“ bei einer Solidaritätsdemo für die Ukraine in Berlin, 2014

Starke Spitzen verzeichnete die Onlinesuche nach bekannten Regimekritikern laut der Studie jeweils bei Ankündigungen von Einberufungen, wie etwa dem Befehl Putins zur Teilmobilmachung im September 2022. Das russische Verteidigungsministerium gab daraufhin bekannt, dass 300.000 Reservisten eingezogen werden. Und auch Suchanfragen, die mit Antikriegsstimmung in Verbindung gebracht werden, stiegen während der Masseneinberufungen an, etwa „Pazifismus“, „Kein Krieg“ und das Kofferwort „Putler“ – zusammengesetzt aus Putin und Hitler.

Diese Tendenz schwächte sich aber ab, seitdem der Kreml dazu übergegangen ist, vermehrt auf Söldner und Rekruten aus dem Gefängnis zurückzugreifen. „Die einfachen Russen denken eher dann kritisch über das Regime nach und suchen online nach Oppositionsbewegungen, wenn die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie selbst oder ihre Angehörigen in den Kampf geschickt werden“, so Studienkoautorin Roula Nezi von der Universität Surrey. Und auch in Zeiten höherer russischer Opferzahlen verzeichnete das Forschungsteam zwar kleinere, aber immer noch wesentliche Anstiege von regimekritischen Begriffen in den Suchtrends.

„Innere Gedanken und Ängste“

Weil die Daten aus den Onlinesuchen sehr ausführlich sind, konnten die Forscherinnen und Forscher das nationale Wohlbefinden genau skizzieren – und stellten einen kontinuierlichen Rückgang seit der Großinvasion in die Ukraine fest. Zwar trat direkt zum Zeitpunkt des Einmarsches russischer Truppen am 24. Februar 2022 noch ein leichter Stimmungsaufschwung ein, dieser ging aber schon am 4. März wieder zurück, als der Kreml ein neues Zensurgesetz verabschiedete. Laut diesem droht allen, die sich gegen die „Militäroperation“ – so die damals vorgegebene Bezeichnung für den Krieg in der Ukraine – aussprechen bis zu 15 Jahre Haft.

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Kämpfe nahe der ukrainischen Stadt Bachmut im Oblast Donezk im Mai 2023

Die Autorinnen und Autoren der Studie planen eine weitere Aktualisierung ihres Datensatzes und argumentieren, dass Onlinesuchtrends mittlerweile ein genauerer Indikator für die öffentliche Meinung in Russland sind als die Daten der Umfrageinstitute. Meinungsumfragen aus Russland seien nach Ansicht von Fachleuten nicht mehr aussagekräftig, weil die Daten durch die Angst der Bevölkerung, sich gegen den Krieg und Putin auszusprechen, sowie möglicherweise auch durch Manipulationen der Regierung verzerrt seien.

„Onlinesuchdaten haben sich als ein leistungsfähiges Instrument erwiesen, um Rückschlüsse auf die Überzeugungen und Einstellungen der Bevölkerung eines Landes zu ziehen“, so Studienautor Foa – denn im Gegensatz zu Daten aus sozialen Netzwerken repräsentieren sie einen viel größeren Teil der Bevölkerung. Und: Sie werden als privat empfunden und „spiegeln oft innere Gedanken und Ängste wider“. Laut den Forscherinnen und Forschern geben Daten aus Suchtrends „einen Einblick in das öffentliche Bewusstsein in repressiven Staaten, in denen die Wahrheit durch einen Nebel aus Angst und Desinformation verborgen wird“.