Die „Mutantenjäger“ Luisa Cochella und Ullrich Elling mit einer Grafik, welche die prozentuale Verteilung verschiedener Corona-Mutationen zeigt, in einem Labor der „IMBA“ am BioCenter in Wien
APA/ROLAND SCHLAGER
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Interview

20 Jahre IMBA: Bilanz im Leuchtturm

Mit einer Arbeitsgruppe im Jahr 2003 hat es begonnen, heute forschen am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien 250 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Fächern Genom- und Stammzellbiologie. Im Ö1-Interview zieht Forschungsdirektor Jürgen Knoblich Bilanz.

science.ORF.at: Herr Knoblich, eine kurze Rückschau auf 20 Jahre IMBA: Was waren die entscheidenden Stationen beim Aufbau des Akademie-Instituts?

Jürgen Knoblich: Zunächst denke ich, dass Außenstehende objektiver über den Erfolg unseres Instituts berichten können. Daher sind wir froh, dass wir die Präsidentin des Europäischen Forschungsrates, Maria Leptin, und den langjährigen Vorsitzenden unseres Scientific Advisory Boards, Tony Hyman, zum Festakt eingeladen haben. Die werden uns schon sagen, wie es ist. Mein Resümee fällt natürlich positiv aus. Wenn man Wissenschaft bewerten soll, dann mache ich gerne den „Deletionstest“: Was wäre, wenn es das IMBA nicht gäbe?

Die Antwort fällt recht eindeutig aus: Das IMBA war verantwortlich, dass die Forschung mit Fruchtfliegen in Wien sehr prominent wurde. Wir haben hier die weltweit zweitgrößte Fruchtfliegen-Bibliothek aufgebaut. Österreich ist auch sehr bekannt für seine Organoid-Forschung, das wäre so ohne das IMBA wohl so nicht passiert. Und das IMBA hat auch in der Covid-Krise eine wichtige Rolle gespielt, die Methoden zum Nachweis neuer Virusvarianten wurden hier am Vienna Biocenter entwickelt.

Zur Chronologie: Auf dem Papier gibt es das IMBA bereits seit 1999. Worauf bezieht sich nun das 20-jährige Jubiläum?

Knoblich: Die Idee war ursprünglich, das Erfolgsrezept des Instituts für Molekulare Pathologie von Boehringer Ingelheim zu kopieren und vielleicht sogar zu verbessern. Gegründet wurde das IMBA wie erwähnt 1999, in diese Zeit fällt auch die Bestellung von Josef Penninger als Gründungsdirektor. Was wir nun feiern, ist die Rekrutierung des ersten Wissenschaftlers, das war Barry Dickson mit seinem Team.

IMBA-Forschungsdirektor Jürgen Knoblich in seinem Büro
ORF/Czepel
IMBA-Forschungsdirektor und Neurobiologe Jürgen Knoblich

Kann man die Performance des Instituts in Zahlen fassen?

Knoblich: Das IMBA hat 22 ERC-Grants eingeworben, das sind die prestigeträchtigsten Forschungsförderungen, die man bekommen kann. Bei nur 14 Forschungsgruppen ist das ganz anständig. Wir haben tausende Veröffentlichungen und sind für die Ausgründung von fünf Biotech-Firmen verantwortlich. Aber ich muss ganz ehrlich sagen: Besonders gerne mag ich diese Metriken nicht. Wofür wir stehen, ist, dass es an diesem Institut möglich ist, riskante Forschung zu betreiben. Man rennt nicht von einem kurzlebigen Forschungsantrag zum nächsten. Die Forscherinnen und Forscher haben hier große Freiräume. Wir lassen sie in Ruhe, sie können machen, was sie wollen. Wenn etwas dabei herauskommt, etwa für die Heilung von Krankheiten, dann sind wir natürlich auch daran interessiert, Firmen zu gründen. Aber in erster Linie machen wir „curiosity driven basic research“.

Welche Atmosphäre braucht es, damit die wissenschaftliche Neugierde dann tatsächlich zu neuen Einsichten führt?

Knoblich: Wir haben eine sehr starke soziale Kontrolle. Wir sind extrem kommunikativ, jede Doktorandin, jeder Doktorand muss einmal pro Jahr einen Vortrag halten und wird dann von der gesamten Faculty interviewt. Man kann forschen, woran man will, aber die Fragen müssen auch Leute aus ganz anderen Arbeitsfeldern interessant finden. Das schafft eine Atmosphäre, in der man die großen Fragen angeht. Fragen, die ich auch meiner Mutter erzählen könnte – und die dann vermutlich auch sie interessant fände.

Zum Beispiel?

Knoblich: Ich würde drei Schwerpunkte nennen: Erstens die Struktur des Zellkerns – was bringt die Chromosomen dazu, sich in der Zellteilung zu verpacken und auf zwei Zellen aufzuteilen? Diese Frage wird von einigen Gruppen hier am IMBA, aber auch am IMP bearbeitet. Ein zweiter erfolgreicher Arbeitsschwerpunkt sind Transposons, also hüpfende Gene. Es ist nämlich so, dass unsere DNA nicht stabil ist, vielmehr gibt es genetische Elemente, die sich frei bewegen können. Und der Körper muss sich dagegen wehren. Denn wenn diese Elemente frei werden, dann werden sie zu Viren – und das kann sehr gefährlich werden.

Ein weiterer, etwas jüngerer Bereich hier am Institut ist die Stammzellforschung. In diesen Bereich fallen auch die Forschungen an Organoiden, mit denen sich meine Arbeitsgruppe beschäftigt. Wir nehmen menschliche Stammzellen, um dreidimensionale Gewebe herzustellen. Wenn die Spender der Stammzellen unter Erbkrankheiten leiden, dann können wir die Krankheit im Labor nachbauen. Wir haben mittlerweile nicht nur Gehirn-Organoide, sondern auch solche von Herz, Darm, Magen und Blutgefäßen.

Gehirn-Organoide in der Nährlösung
ORF/Czepel
Gehirnorganoide in der Nährlösung

Die Organoide sind also so etwas wie eine experimentelle Plattform für die Erforschung von Krankheiten. Welche Kerneinsichten haben Sie in den letzten Jahren mit dieser Methode gewonnen?

Knoblich: Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Es gibt eine Erbkrankheit namens tuberöse Sklerose. Die führt unter anderem zu Wucherungen am Gehirn und das kann man auch in Mäusen modellieren. Damit die Krankheit bei Mäusen entsteht, muss man beide Kopien eines bestimmten Gens kaputt machen. Lange Zeit ging man davon aus, dass das auch beim Menschen so ist. Die Organoid-Forschung hat gezeigt: Das ist nicht der Fall, der Mechanismus der Entstehung ist fundamental anders.

Man kann also alles, was man hier bei Tierversuchen gelernt hat, guten Gewissens über Bord werfen. Unsere Gruppe hat festgestellt: Im menschlichen Gehirn – und nur dort – gibt es Vorläuferzellen, die für die Krankheit verantwortlich sind. Diese Zellen sind besonders empfindlich. Das zeigt: Unser Gehirn ist sehr viel höher entwickelt als das der Maus, aber es hat dadurch auch gewisse Empfindlichkeiten entwickelt.

Organoide sind echten Organen nachempfunden, doch die Ähnlichkeit zum Original hat natürlich auch Grenzen. Wie ist so ein „Minigehirn“ aus dem Labor aufgebaut?

Knoblich: Zunächst muss ich mich gegen den Begriff „Minigehirn“ stemmen, denn er löst eine falsche Vorstellung aus. Was wir hier züchten, sind keine Gehirne im Kleinformat, sondern Gehirngewebe. Also in etwa so, als würde ich ein fünf Millimeter großes Stück aus unserem Gehirn herausschneiden. Und natürlich ist so ein Organoid auch anders als das Gehirn aufgebaut – aber wenn man sich die Zelltypen ansieht, welche Gene dort eingeschaltet werden, dann gibt es eine sehr starke Entsprechung zum Menschen. Die Front der Forschung hat mittlerweile die elektrischen Signale erreicht, wo wir feststellen: Auch da gibt es unglaublich faszinierende Übereinstimmungen.

Die Ähnlichkeit zum Gehirn ist bei Signalmolekülen, Zellen und elektrischen Signalen gegeben – nicht aber bei der Anatomie oder höheren Hirnfunktionen?

Knoblich: Genau, wir können keine Areale des Gehirns nachbauen, keine Sehrinde, keinen motorischen Cortex. Aber wir können die Prinzipien der Selbstorganisation untersuchen: Warum ordnen sich die Nervenzellen in einem menschlichen Fötus ganz spontan so an, dass sie später Funktionen übernehmen können? Und warum funktioniert das nicht, wenn man eine bestimmte Mutation hat? Und warum bekommt man zum Beispiel einen epileptischen Anfall? Das sind Fragen, die sich beantworten lassen. Im Gegensatz zu solchen Fragen: Warum haben wir ein Bewusstsein? Warum haben wir ein Gedächtnis? Das werden wir aus meiner Sicht mit Organoiden nie beantworten können.

Die Möglichkeiten der Manipulation von menschlichem Gewebe schreiten jedenfalls Jahr für Jahr voran. Wo sind aus Ihrer Sicht rote Linien, die man nicht überschreiten sollte?

Knoblich: Da gibt es sehr viele. Man darf etwa nicht mir CRISPR/Cas in die menschliche Keimbahn eingreifen. Man darf auch keine Mischlebewesen herstellen, bei denen ein großer Teil des Gehirns aus menschlichen Zellen besteht. Das ist bei uns tatsächlich verboten.

Wo ist das international festgeschrieben?

Knoblich: In den „Guidelines for Stem Cell Research“, daran halten sich alle Zeitschriften. In manchen Ländern wären solche Experimente zwar gesetzlich nicht verboten, aber man könnte es nicht veröffentlichen. Das heißt: Die Triebkraft der Wissenschaft, nämlich die Publikation, fällt weg. Und ich glaube, das ist eine starke Motivation. Weltweite Gesetze mögen nicht möglich sein, aber diese Regeln gelten tatsächlich weltweit.

Noch ein Blick in die Zukunft: Was ist das nächste große Ding der Biomedizin?

Knoblich: Die Stammzelltherapie wird, im Gegensatz zu vielen anderen Versprechen, tatsächlich umgesetzt. Derzeit laufen dutzende klinische Studien, bei denen abgestorbene Zellen durch den Einsatz von Stammzellen ersetzt werden – etwa, um Parkinson zu heilen. Relevanter für uns hier am IMBA ist eine zweite Revolution die sich gerade anbahnt: nämlich Computational Biology und künstliche Intelligenz. Die Möglichkeiten sind hier überhaupt noch nicht ausgeschöpft. Das IMBA hätte äußerst viele Berührungspunkte mit der KI, wir haben bisher noch keinen Schwerpunkt aufgebaut, aber wir haben das sehr stark vor. Die Unmengen an Daten, die wir mittlerweile generieren, seien es nun Bilder, Elektronenmikroskopie- oder Genom-Daten – die kann man nicht mehr händisch verarbeiten. Man kann sie auch nicht mit herkömmlichen Computerprogrammen verarbeiten. Das sind Big-Data-Probleme – und damit prädestiniert für eine Interpretation durch künstliche Intelligenz.

Inwieweit könnte die KI auch Ihr eigenes Forschungsgebiet, die Neurobiologie, verändern?

Knoblich: Ich organisiere zu diesem Thema gerade mit zwei Kollegen eine Konferenz. Es gibt mittlerweile Computerprogramme, die aus dem EEG unsere Gedanken ablesen können. Wenn ich zum Beispiel einen Text mit 100 Wörtern lese, kann das Programm 97 oder 98 davon richtig erkennen – ohne, dass ich etwas gesagt habe. Das wirft natürlich auch ethische Fragen auf, die man beantworten muss. Wenn es um das menschliche Gehirn geht, stelle ich mir immer die Frage: Werden wir irgendwann eine einfache Frage bekommen?

Nehmen Sie zum Beispiel den genetischen Code. Der hat Fragen gelöst, die sich die Menschen immer schon gestellt haben. Warum sehe ich aus wie meine Mutter oder mein Vater? Warum werden bestimmte Eigenschaften vererbt? Der genetische Code gibt eine unglaublich einfache Antwort darauf, die kann ich jedem Kind erklären. Wird es für die Funktionsweise des Gehirns auch einmal so eine einfache Antwort geben? Ich weiß es nicht. Aber ich rechne damit, dass wir in den nächsten zehn bis 20 Jahren zumindest interessante Antworten bekommen werden.