Anhänger von Donald Trump, die am 6. Jänner ins US-Kapitol eingedrungen sind
AFP – SAUL LOEB
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Interview

Wie man Faschismus verhindert

In vielen Ländern rund um den Globus werden rechtspopulistische Parteien stärker. Vor einer Wiederkehr des Faschismus warnt der britische Journalist und politische Aktivist Paul Mason. Was man dagegen tun kann und welche Rolle die Kulturwissenschaften dabei spielen können, erklärt er in einem ORF-Interview.

Anlass ist eine Tagung zum 30. Geburtstag des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz (IFK) in Wien. Bis Freitag (16. Juni) ziehen renommierte Forscherinnen und Forscher aus In- und Ausland Bilanz zur bisherigen Arbeit des Instituts und werfen dabei einen Blick in die Zukunft der Kulturwissenschaften – darunter auch Paul Mason.

Paul Mason
ORF

Paul Mason bei einem ORF-Interview

Der 1960 geborene Brite hat jahrelang als Journalist und Moderator für die BBC und Channel 4 gearbeitet, 2016 verließ er die Fernsehnachrichten, um sich gegen den Brexit zu stellen und die britische Labour Party zu unterstützen. Heute schreibt er für zahlreiche Medien und ist Autor mehrerer Bücher, im Vorjahr ist sein Buch „Faschismus. Und wie man ihn stoppt“ bei Suhrkamp erschienen (Leseprobe).

science.ORF.at: Ich finde es immer etwas seltsam, wenn ein Journalist einen anderen Journalisten interviewt. Sie auch?

Paul Mason: Nein, ich habe das selbst schon oft gemacht. Ich denke, Journalisten haben viel zu sagen, und ich denke, sie sollten mehr interviewt werden. Wir haben an vorderster Front viel Erfahrung gemacht, mit vielen der schlechten Dinge, die in der Gesellschaft passieren. Deshalb bin ich froh, hier zu sein.

Vielen Dank, ich auch. Sie sind gerade in Wien Teilnehmer der Konferenz zum 30-jährigen Jubiläum des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften an der Kunstuniversität Linz (IFK), kannten Sie das zuvor?

Mason: Ich war noch nie dort. Kulturwissenschaften/Cultural Studies sind in Großbritannien ziemlich weiche Disziplinen, verbunden mit Kunst und Literatur. Aber ich denke hier in Wien und auch in der kontinentalen philosophischen Tradition haben sie einen viel strengeren und wissenschaftlicheren Fokus. Es interessiert mich also sehr, was die anderen Rednerinnen und Redner sowie das Publikum zu Rechtsradikalismus und Faschismus zu sagen haben – wo hier jetzt Methodik und Kultur der Kulturwissenschaften seit 30 Jahren etabliert sind.

Unter dem Titel „Where are we now?“ reflektiert das IFK Vergangenheit und Zukunft der Kulturwissenschaften bzw. der Cultural Studies. Wenn man die Frage auf den Faschismus bezieht: Wo stehen diese Disziplinen dabei?

Mason: Wir befinden uns in einer Welt multipler Krisen – Polykrise ist das neue Schlagwort. Disziplinen, die Verknüpfungen herstellen können, einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen und nicht nur Einzelteile studieren, werden bei der Bewältigung dieser Krisen sehr wichtig sein.

Woran denken Sie zum Beispiel?

Mason: In den USA gibt es das Phänomen der sogenannten mass shooter: einzelne Person, die in der Öffentlichkeit massenhaft Menschen mit automatischen Gewehren erschießen. Wessen Aufgabe ist es, dieses Ereignis zu untersuchen? Natürlich kann die Kriminologie das studieren. Die meisten dieser Typen sterben durch Suizid oder das, was sie „Suizid durch Polizisten“ nennen. Aber man kann immer noch das Verbrechen und die Strafe untersuchen, ebenso die Ideologie dahinter. Denn viele von ihnen sind Faschisten oder Incels – frustrierte alleinstehende Männer, die Frauen hassen. Aber es gibt keine Disziplin, deren Aufgabe es ist, dies in einen größeren Kontext zu stellen. Ich denke, dass diese Kombination aus politischem Radikalismus, extremer sexueller Frustration, extremer Gewalt und Nihilismus nach einer Disziplin verlangt, die solche Ereignisse ganzheitlich untersucht.

Das wäre also ein Argument für eine Kulturwissenschaft, die sich auch mit den brennenden Problemen der Gegenwart beschäftigt und nicht vorwiegend mit der Geschichte …

Mason: Das Tolle an der Geschichte ist, dass es immer wieder neues Wissen gibt, zumal wir heute in der Lage sind, große Datenmengen und Genetik zu nutzen. Wir können heute die Gene von Menschen sequenzieren, die in Pompeji und Herculaneum beim Vulkanausbrauch gelebt haben – ich war da erst letzten Monat. Unser Wissen über die Zeit, auch was ich in der Schule über die antike römische Gesellschaft gelernt habe, hat sich dadurch stark verändert. Die Vergangenheit muss also Gegenstand der Sozial- und Kulturwissenschaften sein – am besten im Austausch mit anderen Disziplinen wie der Genetik. Als Journalist und politischer Aktivist habe ich aber leider nicht den Luxus, mich viel mit den Fragen der Vergangenheit zu beschäftigen, auch wenn ich das gerne tun würde, denn die Probleme der Zukunft sind drängend.

Eines davon betrifft den Faschismus, vor dem Sie in Ihrem jüngsten Buch warnen. Im Gegensatz zu ihren historischen Vorgängern wollen sich viele Faschisten heute nicht mehr so nennen. Warum ist das so?

Mason: Naja, einige von ihnen tun es ohnehin. Ich würde das aber gerne in größerem Rahmen beantworten. Als der Rechtspopulismus zum ersten Mal auftauchte, verbunden mit Namen wie Jörg Haider oder Silvio Berlusconi, dachte ich, dass es sich nicht wirklich um faschistische Parteien handelte. Sie wollten nicht mit Lederjacken und Hakenkreuzen marschieren, dachten nicht an Völkermord. Sie waren eine Art plebejischer Konservatismus, eine Ablehnung des Sozialliberalismus und ein neuer Nationalismus. Damals waren die eigentlichen faschistischen Gruppen klein, in einigen Ländern waren sie verboten, oft isoliert. Bis in die frühen 2000er Jahre habe ich oft gehört, dass rechtspopulistische Parteien wie jene von Marine Le Pen in Frankreich, so schlecht sie auch sein mögen, eine Art Brandmauer gegen den tatsächlichen Faschismus sind – und dass die Leute, die Hakenkreuze schwenken und Schlagstöcke tragen wollen, ihre Zeit für immer damit verschwenden, diese „dummen Zehn-Prozent-Parteien“ ins Parlament zu wählen, wo sie niemals regieren können und keinerlei Einfluss auf die Realität haben. Diese Annahme war offensichtlich falsch.

Weil?

Mason: Die Denkarchitektur des realen Faschismus hat begonnen, die rechtspopulistischen Parteien und ihre Massenbasis zu beeinflussen. Als ich vor 20 Jahren Rechtspopulisten und Brexit-Befürworter in Großbritannien interviewte, sagten einige, dass sie Halal-Essen nicht mögen – oder Frauen, die Hijab tragen. Heute sagen sie: Wann fängt der Bürgerkrieg an? Wann beginnt der Endkampf mit den Muslimen? Das sind also ganz andere Ideen und Vorstellungen. Und die stammen aus dem Faschismus. Seine ideologischen Strukturen führen zu einem Ziel, das Rechtspopulisten und Konservative nicht erreichen wollen, nämlich zum Völkermord. Das ist der Kern der Idee des „Großen Austausches“ – egal in welcher Version, ob von Alexander Dugin oder Richard Spencer oder von sonst wem: „Einwanderung ist eine Invasion. Die Invasoren kommen. Wir müssen ihnen widerstehen. Sie wollen Völkermord begehen. Deshalb haben wir das Recht, das zu verhindern.“ Ich glaube nicht, dass rechte Parteien wie die FPÖ, jene von Marine le Pen oder Vox in Spanien diesen Weg gehen wollen. Aber das wollten Alfred Hugenberg und die Deutschnationale Volkspartei in den 1920er und 1930er Jahren auch nicht. Sie waren aber der Wirt jener antisemitischen Ideologie, die die NSDAP genährt hat. So ähnlich war es auch mit dem Austrofaschismus in Österreich. Ich würde sie als Einstiegsdrogen für den echten Faschismus bezeichnen.

Anhänger von Donald Trump, die am 6. Jänner vor dem US-Kapitol mit Polizisten kämpfen
AFP – ROBERTO SCHMIDT
Anhänger von Donald Trump am 6. Jänner vor dem US-Kapitol

Befinden wir uns gerade wieder im Moment der Einstiegsdrogen?

Mason: Die Gefahr sehe ich, ja. In gewisser Hinsicht ist die Gefahr zwar heute geringer, weil wir heute gesunde Verfassungen und Rechtsstaatlichkeit haben, dazu universelle Menschenrechte, die durch einen internationalen Vertrag garantiert werden. Wir haben Gerichtswesen, die im Großen und Ganzen, außer vielleicht in Polen und Ungarn, in Europa nicht korrupt sind. Wir haben also viele Checks and Balances. Wir haben mit der Generation Z auch die am besten ausgebildete Generation, die je gelebt hat. Niemand von dieser Generation kann sagen: Ich wusste nicht, dass etwas passierte. Das ist die positive Seite.

Und die negative?

Mason: Die Medien und die Universität, und damit die wissenschaftliche Methode und die Ideen von Logik und Wahrheit haben ihren Einfluss auf den populären Diskurs verloren. In Großbritannien zeigte gerade eine Umfrage, dass etwa zehn Prozent der Menschen jede Verschwörungstheorie glauben, vom Großen Austausch über den Great Reset durch das Weltwirtschaftsforum bis zur Theorie, wonach Covid-19 eine Verschwörung der Regierung war. Zehn Prozent glauben es sehr, etwa weitere zehn Prozent ein bisschen. Das ist das Produkt der sozialen Medien, in denen Desinformation gezielt verbreitet wird – zum Teil von Staaten wie Russland und China gefördert, aber auch durch gewöhnliche Menschen. Wenn man diese positiven und negativen Seiten verbindet, sehe ich im Fall großer gesellschaftlicher Erschütterungen eine große Gefahr – zumal sich der Faschismus selbst radikalisiert hat. Faschisten, die ich in den 1970er und 80er Jahren auf den Straßen Großbritanniens bekämpft habe, leugneten, dass der Holocaust stattgefunden hat. Beim Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 trugen Leute T-Shirts mit der Aufschrift „Sechs Millionen waren nicht genug.“

Um nicht mit diesem schrecklichen Zitat zu enden: In Ihrem Buch „Postkapitalismus“ von 2015 spielte Faschismus kaum eine Rolle. Es macht insgesamt einen ziemlich optimistischen Eindruck, sie gaben damals eine Art Handbuch für die Überwindung eines sehr anpassungsfähigen Systems. Was hat sich seither geändert?

Mason: Es gibt ein Sprichwort beim Poker, dass man mit den Karten spielen muss, die man bekommen hat. Und fast alle zwei oder drei Monate legt die Geschichte neue Karten auf den Tisch. 2015 habe ich mit „Postkapitalismus“ versucht, der Linken in der Euro-Krise und globalen Finanzkrise ein übergeordnetes Ziel zu geben. Als das Buch erschien – es gab nicht einmal eine Präsentation dafür – war ich gerade in Griechenland, mitten in der Krise. Die Banken waren geschlossen, das Land am Rand der Revolution. Zu diesem Zeitpunkt waren Christine Lagarde und Mario Draghi die Hauptfeinde des Fortschritts – neoliberale Globalisten, die Europa Austerität aufzwingen wollten. Und ich habe gegen sie gekämpft. Heute sind sie nicht mehr die Hauptfeinde – sondern wesentliche Verbündete.

Warum?

Mason: Weil die Hauptfeinde andere sind: die Trumps, Parteien wie AfD oder Vox. Sie wollen die Demokratie zerstören. Und das ist nicht nur eine Allianz aus Bequemlichkeit. Eigentlich glaube ich, dass wir als Linke eine Diskussion gewonnen haben, weil Ursula von der Leyen, Christine Lagarde, Joe Biden jetzt aufstehen und sagen: Lasst uns eine neue Art von Kapitalismus haben. Ein Kapitalismus, der den globalen Norden reindustrialisiert und den Reichtum an die einfachen Menschen umverteilt. So kommt es zumindest aus ihren Mündern. Natürlich müssen sie es erst tun. Das ist gar nicht so einfach. Aber ich glaube, dass es jetzt eine Grundlage gibt für Leute wie mich, für linke Sozialdemokraten und den rechten Flügel der Sozialdemokratie, für Liberale und Grüne gemeinsam mit Leuten wie Lagarde, von der Leyen und Biden, das zu liefern, was sie einen neuen Washingtoner Konsens über soziale Gerechtigkeit nennen. So könnten wir den Faschismus besiegen – mit einem abgerundeten Programm zu Wirtschaft, Sozialem, Klima und Gerechtigkeit. Ich bin ein radikaler Linker, aber eigentlich ist das eine ziemlich unradikale Botschaft. Die Mitte und die Linke müssen sich taktisch vereinen, um die extreme Rechte zu besiegen. Sonst ist alles, was wir nach dem Krieg aufgebaut haben, vorbei.