Muschel „Cristaria plicata“
Xiang-Sen Meng, Li-Chuan Zhou, Lei Liu, Yin-Bo Zhu, Yu-Feng Meng, Dong-Chang Zheng, Bo Yang, Qi-Zhi Rao, Li-Bo Mao, Heng-An Wu, Shu-Hong Yu
Xiang-Sen Meng, Li-Chuan Zhou, Lei Liu, Yin-Bo Zhu, Yu-Feng Meng, Dong-Chang Zheng, Bo Yang, Qi-Zhi Rao, Li-Bo Mao, Heng-An Wu, Shu-Hong Yu
Bionik

Muscheln als Vorbild für robuste Scharniere

Muscheln öffnen und schließen ihre Schalen unzählige Male, ohne auszuleiern. Die dafür nötigen Scharniere sind extrem robust, was laut einer neuen Studie vor allem an der optimalen Kombination und Anordnung von flexiblen und steifen Materialien liegt. Das könnte die Entwicklung von belastbaren Scharnieren inspirieren.

Die meisten menschengemachten Technologien gehen irgendwann kaputt, wenn sie oft und regelmäßig benutzt werden. Die Natur hingegen hat für viele Abnutzungserscheinungen bereits Lösungen parat und dient daher immer öfter als Vorbild für die Industrie. Damit beschäftigt sich das Forschungsfeld der Bionik. Als eines der bekanntesten Beispiele der Bionik gilt Leonardo Da Vincis Versuch, Vögel mithilfe von Flugmaschinen nachzuahmen. Ein moderneres Beispiel bildet der von den Kletten inspirierte Klettverschluss.

Robuste Muscheln

Ein mögliches Vorbild für technische Anwendungen hat ein Forschungsteam aus China nun untersucht: Muscheln bzw. ihre Scharniere. Die Ergebnisse der Analyse werden nun im Fachjournal „Science“ vorgestellt. Um zu überleben, müssen die Schalentiere unter anderem dazu in der Lage sein, sich unzählige Male zu öffnen und zu schließen. Die Anforderungen an das dafür nötige Scharnier, das die beiden harten Schalen verbindet und auch „Schloss“ genannt wird, sind enorm. „Trotzdem gelingt es den Tieren auch nach vielen Jahren und unzähligen Öffnungs- und Schließvorgängen immer wieder problemlos, ihre Schalen fest zuzumachen“, erklärt die Postdoktorandin und Biomechanikerin Rachel Crane von der Universität von Kalifornien. Gegenüber science.ORF.at fügt sie hinzu: „Die Scharniere der Muscheln sind also ziemlich resistent gegen Abnutzungserscheinungen aller Art.“

Keine Erschöpfung oder Schäden

In Experimenten mit der Muschelart Cristaria plicata, die vor allem in Nordostasien verbreitet ist, testete das Team, wie oft sich das Scharnier der Muscheln tatsächlich öffnen und schließen lässt. Sogar nach eineinhalb Millionen Mal konnte man dabei keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Das entspricht rund einem Schließvorgang pro Minute über einen Zeitraum von drei Jahren. In ihrer natürlichen Umgebung werden Muscheln aber zum Teil älter als einhundert Jahre – Crane geht daher davon aus, dass die Scharniere unter normalen Umständen sehr viel häufiger zum Einsatz kommen als im Experiment des chinesischen Forschungsteams.

„Es ist aber trotzdem ein wirklich beeindruckendes Ergebnis – vor allem in Hinblick darauf, dass es bei den Scharnieren scheinbar gar keine Anzeichen von Erschöpfung oder anderen Schäden gab“, erklärt Crane, die an den Untersuchungen in China nicht beteiligt war. Die Biomechanikerin veröffentlichte aber zusammen mit dem Meeresbiologen Mark Denny von der Stanford Universität (USA) einen begleitenden Kommentar zur Studie, der ebenfalls im Fachjournal „Science“ erschienen ist.

Flexibel und robust

Das chinesische Forschungsteam fand heraus, dass für die Widerstandsfähigkeit der Muschelscharniere unter anderem eine spezielle Kombination aus flexiblen und steifen Materialien verantwortlich ist. Laut Crane ist die Struktur der Scharniere mit einem aufklappbaren Fächer vergleichbar.

Die Streben des Fächers bestehen aus mineralisierten und steifen Nanodrähten aus Aragonit, die von einer flexiblen, organischen Substanz umgeben sind. Die harten Nanodrähte würden auf sich allein gestellt schnell brechen, sobald sie aber vom flexiblen Material umgeben und zudem in dieselbe Richtung ausgerichtet sind, werden sie um ein Vielfaches robuster. Die Drähte haben außerdem eine besonders robuste kristalline Struktur, die es ihnen erlaubt schnell zu wachsen, sich gegenseitig zu stärken und Brüche zu vermeiden. „Diese Faktoren machen die Scharniere der Muscheln einerseits biegsam, andererseits aber auch sehr widerstandsfähig“, so Crane.

Ein Querschnitt des Scharniers bei uscheln
Xiang-Sen Meng, Li-Chuan Zhou, Lei Liu, Yin-Bo Zhu, Yu-Feng Meng, Dong-Chang Zheng, Bo Yang, Qi-Zhi Rao, Li-Bo Mao, Heng-An Wu, Shu-Hong Yu
Ein Querschnitt des Muschelscharniers

Potenzial für die Industrie

Das chinesische Forschungsteam hat die Muschelscharniere in ersten Versuchen bereits nachgeahmt. Tatsächlich einsatzfähig ist die Technologie aktuell aber noch nicht. „Die Forscherinnen und Forscher haben es geschafft, einen einzigen Aspekt des komplexen Scharniers nachzubauen – und zwar, dass bestimmte Strukturen robuster werden, sobald man ihre steifen Bestandteile speziell anordnet und mit einer flexiblen Substanz umhüllt“, so Crane. Laut der Biomechanikerin gibt es im Scharnier der Muscheln aber noch viele weitere wichtige Prozesse, die im ersten Versuch des Forschungsteams nicht berücksichtigt wurden und weitere Untersuchungen erfordern.

Um ein noch genaueres Bild von der Widerstandsfähigkeit der Muscheln zu bekommen, sind laut Crane auch Analysen von anderen Muschelarten nötig. „Das chinesische Team hat sich in der Arbeit auf eine Art konzentriert, es gibt aber sehr viele verwandte Muscheln, die ähnlich aufgebaut sind“, sagt die Biomechanikerin. Trotzdem könnte es kleine Unterschiede geben, die bei der Entwicklung von schadensresistenten Scharnieren relevant sind. Das Potenzial, von Muscheln inspirierte Scharniere künftig in der Industrie, in elektronischen Teilen oder Bereichen wie der Luftfahrt einzusetzen, ist laut Crane jedenfalls gegeben.