Neretva
Ulrich Eichelmann
Ulrich Eichelmann
Neretva

Ein wertvolles Flusssystem in Gefahr

Der Oberlauf der Neretva in Bosnien ist ein bisher unberührtes und intaktes Flussökosystem. Durch den Bau eines Staudammes droht dieses Flussnetzwerk in zwei Teile zerstückelt zu werden. Dutzende Forscherinnen und Forscher waren dort, um das Ökosystem zu vermessen und seinen Wert zu verdeutlichen.

Sucht man nach wilden, unverbauten Flüssen, dann landet man schnell auf der Balkanhalbinsel. Im Frühjahr wurde die Vjosa in Albanien zum ersten Wildfluss-Nationalpark Europas erklärt. Damit wurde dem Fluss ein Wert zugesprochen, den auch die Wissenschaft erkämpft hat. Jahrelang haben Forscherinnen und Forscher den Fluss untersucht, dort seltene Insekten und Pflanzenarten entdeckt. Nun haben sie die Neretva im Visier.

„Die Neretva ist einer der Archetypen der Flüsse des Balkans“, sagt der Fließgewässerökologe Gabriel Singer von der Universität Innsbruck. Viele Karstquellen speisen den Fluss, der klares Wasser führt und durch steil eingeschnittene Schluchten fließt.

Durch Staudamm bedroht

Unterhalb der Ortschaft Konjic wird die Neretva bereits zu Stauseen aufgestaut, oberhalb davon ist der Flusslauf auf rund 80 Kilometer jedoch immer noch ursprünglich. Der Fluss habe auf dieser Strecke noch ein intaktes Abflussregime, sagt der Forscher. „Es wird ihm kein Wasser genommen, es wird kein Wasser gestaut oder vorübergehend zurückgehalten und es wird auch nicht zusätzlich Wasser hinzugeführt.“ Zudem sei in diesem Bereich auch die Verzahnung mit dem Umland noch intakt. Die Wälder in den Schluchten und die Wiesen auf den Hochebenen seien in einem naturnahen Zustand.

Diese Ursprünglichkeit wird jedoch durch Staudämme bedroht. Mehrere sind geplant, einer ist in Ulog bereits in Bau. Die Leistung, die dieses Wasserkraftwerk erbringen wird, könnten auch ein knappes Dutzend Windkraftwerke erbringen, sagt Singer. „Bei solchen Alternativen, ist es schwierig zu argumentieren, warum man ein Fließgewässersystem mit bis zu 80 Kilometer freier Fließstrecke zerstückeln muss.“ Denn solche freien Fließstrecken seien in Europa kaum mehr vorhanden.

Bei Ulog wird bereits ein Staudamm gebaut, der laut Forschenden die Biodiversität am Fluss stark beeinträchtigen wird
joshua.d.lim
Bei Ulog wird bereits ein Staudamm gebaut, der laut Forschenden die Biodiversität am Fluss stark beeinträchtigen wird

Anfang Juni waren zum zweiten Mal dutzende Botanikerinnen, Gewässermorphologen, Insektenforscherinnen und Sozioökologen vor Ort, um Proben zu nehmen, Pflanzen und Tiere zu bestimmen und Karsthöhlen zu erkunden. Sie erforschten Fische, aquatische Makroinvertebraten, Vögel, Amphibien, Reptilien, Fledermäuse, Wasserkäfer, Libellen, Moose, Pilze und vieles mehr. Gefunden wurden seltene Arten wie die Adria-Forelle, die Fledermausart Große Hufeisennase und die Gelbbauchunke.

Ein Netzwerk ist mehr als seine Teile

Darf ein Fluss frei fließen und Sediment transportieren, dann bildet er ein Netzwerk aus vielfältigen Lebensräumen aus. Bei der Neretva bedeutet das: ruhigere Bereiche mit feinem Schotter oder Schlamm und Wildwasserbereiche mit großen Steinen und kleinen Wasserfällen. „Diese Unterschiedlichkeit der Lebensräume auf sehr kleinem räumlichen Maßstab ist die Grundlage für Biodiversität in diesem System“, sagt Singer.

Bereits zum zweiten Mal haben dutzende Wissenschafterinnen und Wissenschafter die Neretva in Bosnien beforscht
Vladimir Tadic
Bereits zum zweiten Mal haben dutzende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Neretva in Bosnien beforscht

Die Artenvielfalt in einem intakten Flussnetzwerk, das durch viele Zubringerflüsse gespeist wird, sei höher als die Summe der einzelnen Bäche, erklärt der Forscher. Denn in diesem Flussnetzwerk werden Nährstoffe, Kohlenstoff, Energie, Wärme und Arten miteinander ausgetauscht. Umso problematisch sei es, wenn man solch ein Netzwerk durch einen Staudamm zerstückelt. Auf der einen Seite des Damms werde der Fluss zerstört, da der Wasserspiegel schwankt und sich kein natürliches Ufer entwickeln kann. Und unterhalb des Damms muss der Fluss mit einem geringen Durchfluss und Flutwellen zurechtkommen.

Klimaschädliche Methanquellen

Flüsse emittieren CO2 und Methan, weshalb sie auch eine wichtige Rolle im Kohlenstoffkreislauf der Erde spielen. Ob ein Fluss seinen organischen Kohlenstoff, der beispielsweise in Form von Blättern, Pflanzenteilen und Humus in den Fluss gelangt, stärker als CO2 oder als Methan emittiert, hänge stark davon ab, wie der Mensch mit ihm umgeht, betont der Professor für Aquatische Biogeochemie. „Wenn ich einen Bach aufstaue, dann kann er sehr schnell zu einer starken Methanquelle werden und gibt weniger CO2 ab.“ Das ist insofern problematisch, da Methan ein 30 mal potenteres Treibhausgas ist als CO2.

Wenn ein Staudamm gebaut wird, wird die Neretva mehr Methan emittieren, so Singer. Gemeinsam mit Studentinnen und Studenten hat er die Kohlenstoffflüsse vor Ort analysiert. Schon jetzt emittiert der Fluss an Orten, die einem Stauraum ähnlich sind, wo das Wasser langsam fließt und mehr Feinsediment angelandet wird, mehr Methan als an jenen Stellen, die turbulent sind und wo das Wasser schnell fließt.

Fluss als Dienstleister

Intakte Flusssysteme erbringen wichtige Ökosystemdienstleistungen für den Menschen. Sie reinigen das Wasser und sichern die Trinkwasserversorgung. Zudem sind sie ein wichtiger Erholungsraum für die Bevölkerung vor Ort und bieten Fischerinnen und Fischern Nahrung. Würde man den Fluss unter Schutz stellen und die Region ökotouristisch nutzen, dann würden mehr Menschen wirtschaftlich davon profitieren als von der geplanten Wasserkraftnutzung, ist Singer überzeugt. „Dass das funktionieren kann, sieht man an Beispielen wie der Soča in Slowenien oder der Tara in Montenegro.“