Ludwig Wittgenstein, Foto: Moriz Nähr, 193
Österreichische Nationalbibliothek
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Philosophie

„Wittgenstein kann nie aussterben“

Seit Montag läuft in Kirchberg am Wechsel (NÖ) das 44. Ludwig-Wittgenstein-Symposion. Das Programm in Erinnerung an den großen Philosophen ist diesmal besonders bunt – neben Kernthemen wie Sprachphilosophie und Wiener Kreis geht es etwa auch um mögliche Anknüpfungspunkte an die chinesische Philosophie, Psychoanalyse – und Witze.

„Wittgenstein kann eigentlich nie aussterben“, sagte Alois Pichler, Mit-Organisator und Leiter des Wittgenstein-Archivs in Bergen/Norwegen, vorab gegenüber science.ORF.at.

Ganze „ideologische“ Bandbreite

Das 44. Wittgenstein-Symposion widmet sich im Titel zwei runden Gedenktagen – dem 100. Jahrestag des Erscheinens des „Tractatus logico-philosophicus“ und dem 70. Todestag des Philosophen. Beide hätten eigentlich schon 2021 begangen werden sollen, pandemiebedingt wurde das auf heuer verschoben. „Darüber hat sich bisher niemand beschwert“, sagt Pichler.

Auffällig ist das vielfältige Programm, das weit über eine angelsächsisch geprägte Rezeption in der Tradition von Sprachphilosophie und analytischer Philosophie hinausgeht. So wird sich ein Vortrag der Frage widmen, ob Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit – mit dem er z.B. die Ähnlichkeit von Spielen charakterisierte – Anschlusspunkte findet in der chinesischen Philosophie. Konkret in dem Begriff der Rechtschaffenheit, den Mengzi, ein bedeutender Nachfolger von Konfuzius, rund 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung prägte.

„Die Wittgenstein Community ist mittlerweile sehr vielfältig und sehr international. Und es ist toll, dass die ganze Bandbreite und – unter Anführungszeichen – ideologische Vielfalt auch nach Kirchberg kommt“, sagt Alois Pichler. Der gebürtige Südtiroler bringt selbst einiges an Internationalität mit. Seit 30 Jahren arbeitet der Philosoph und Germanist in Norwegen, wo Wittgenstein sich mehrere Male zur philosophischen Arbeit zurückgezogen hat, seit 2001 leitet er das Wittgenstein-Archiv an der Universität Bergen und ist dort auch Professor.

Von Witzen bis Liebe

Weitere Hinweise auf die thematische Vielfalt des Symposiums: Vorträge über die Ästhetik bei Susan Sontag, Wittgensteins Verhältnis zu Schopenhauer, Kierkegaard und der Jung’schen Psychologie, Postmoderne und „tiefe Witze“. Besonders gespannt ist Mit-Organisator Pichler auf drei Vorträge. In dem ersten geht es um die „Notes on Logic“, dem Erstlingswerk von Wittgenstein aus dem Jahr 1913, dessen Entstehungsgeschichte durch diesen Vortrag besser bekannt gemacht wird. Ein zweiter widmet sich dem Jahr 1917, in dem Wittgenstein im Ersten Weltkrieg als Soldat an der Front in Galizien und der Bukowina war – auch hier gibt es noch Forschungslücken.

Und ein dritter geht dem Briefwechsel von Wittgenstein mit Ben Richards nach, der vor Kurzem in dem Buch ‘I think of you constantly with love‘ erschienen ist. (Leseprobe) Für Pichler besonders ersichtlich aus diesem Buch: dass Wittgenstein, dessen Leben von geistiger und praktischer Strenge und nicht gerade von persönlichem Glück geprägt war, „in den letzten fünf Jahren seines Lebens endlich wieder jemanden gefunden hat, den er lieben durfte und lieben konnte.“

"With Love, Ludwig“: Brief aus der Korrespondenz mit Ben Richards
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"With Love, Ludwig“: Brief aus der Korrespondenz mit Ben Richards

“Kein toter Hund“

Generell hält der Leiter des Wittgenstein-Archivs in Bergen den österreichischen Philosophen nach wie vor für einen der einflussreichsten Denker weltweit. Der große Hype wie vor 50 Jahren sei zwar vielleicht vorbei, aber Wittgenstein alles andere als „ein toter Hund“. Das zeige sich etwa an der regen Publikationslandschaft, der Verlag der Universität Cambridge etwa widme ihm eine eigene Reihe.

Dennoch würde sich ein nicht geringer Teil der akademischen Philosophiewelt nach wie vor schwer tun mit Wittgenstein. Wie schon zu seinen Lebzeiten sei er noch immer „für viele ein rotes Tuch, weil er eine andere Auffassung von Philosophie hatte als sie selbst“, so Pichler. Auf der einen Seite die traditionelle Metaphysik, die Wittgenstein in den Bereich des Unsagbaren oder Unsinnigen verwiesen hat („wovon man nicht reden kann, muss man schweigen“). Auf der anderen Seite die analytische Philosophie, die sich direkt auf ihn berufen hat. „Sie hat eine Auffassung von Philosophie, wonach alles philosophisch Relevante durch rationale Argumentationen erfassbar ist, und dem widerspricht Wittgenstein letztlich.“

Gleichgültig, wo man sich philosophisch verorte, die weitere Erforschung seiner Gedanken werde nicht aufhören, ist Pichler überzeugt. „Wittgenstein hat an philosophischen Klärungen gearbeitet. Und die sind immer wertvoll, ganz unabhängig davon, ob man jetzt Metaphysiker ist oder Anti-Metaphysiker, ob Idealist oder Anti-Idealist usw.“ Besonders im Nachlass zeige sich, wie minuziös Wittgenstein um die Klärung philosophischer Probleme kämpfte.

Gedanken haben und bewegen

Apropos Nachlass: Dieser steht mittlerweile über die Webseite des Archivs Bergen fast komplett allen öffentlich zur Verfügung, die Briefe Wittgenstein gibt das Brennerarchiv der Universität Innsbruck heraus.

Obwohl sich weltweit hunderte Fachleute mit diesen Texten beschäftigen, gibt es immer noch Forschungslücken – oder neue Perspektiven auf Wittgenstein, wie Pichler meint. „Das betrifft etwa seinen Begriff der Gedankenbewegung. Er sagt selbst: ‚Ich habe nie selbst eine Gedankenbewegung erfunden, sondern sie für mein Klärungswerk immer leidenschaftlich aufgegriffen‘, und dann nennt er zehn Leute, deren Gedankenbewegungen er aufgegriffen hat.“

Das 44. Wittgenstein-Symposium in Kirchberg läuft noch bis 12. August, rund 200 Vertreterinnen und Vertreter der Fachgemeinde werden sich dort, wo auch die Österreichische Ludwig-Wittgenstein-Gesellschaft sitzt, austauschen.