Künstliche Hirnzellen im Organoid-Modell
Knoblich Lab / IMBA-IMP Graphics
Knoblich Lab / IMBA-IMP Graphics
Genetik

Minihirne zeigen, wie Autismus entsteht

Mit einer neuen Methode ist es Fachleuten aus Österreich und der Schweiz gelungen, detaillierte Einblicke in die Entstehung von Autismus zu bekommen. Die Technik erlaubt es, die Auswirkungen bestimmter Genmutationen in künstlichen Minihirnen genau zu analysieren.

Das menschliche Gehirn nutzt einzigartige Prozesse für die Entwicklung und das Vernetzen seiner unzähligen Zellen. Auch das Erbgut spielt dabei eine bedeutende Rolle. „Wenn ich mit meinen Söhnen rede, dann habe ich das Gefühl, dass sie oft sehr ähnlich denken wie ich. Und was ich mit meinen Söhnen gemein habe, sind Gene“, erklärt Jürgen Knoblich, der Leiter des Instituts für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Natürlich spiele auch das Umfeld eine sehr große Rolle in der Gehirnentwicklung – ein paar wichtige Prozesse seien aber dennoch vom Erbgut und den Genen der jeweiligen Person abhängig. „Wenn eines dieser Gene ausfällt, zum Beispiel aufgrund einer vererbten Genmutation, kann es zu milden, aber in manchen Fällen auch zu sehr schweren Entwicklungsstörungen kommen“, erklärt der Molekularbiologe gegenüber science.ORF.at.

Störungen durch defekte Gene

Schon in früheren Untersuchungen wurde aufgezeigt, dass es einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erbgut und bestimmten Entwicklungsstörungen gibt. „Beispiele dafür wären Epilepsie, Autismus, aber auch noch viel schlimmere Krankheiten, wie zum Beispiel Mikrozephalie“, so Knoblich, der hinzufügt: „Gerade bei Autismus-Spektrum-Störungen weiß man mittlerweile, dass schon einzelne Genmutationen zu ihrer Entstehung beitragen können.“

Von den potenziell problematischen Genmutationen gibt es laut Knoblich mittlerweile bereits eine lange Liste. Unklar war bisher aber, was im menschlichen Gehirn tatsächlich passiert, wenn eines dieser Gene defekt ist. An Tiermodellen lasse sich das kaum untersuchen, weil die Entwicklung des menschlichen Gehirns in vielen Aspekten einzigartig ist.

Hirnzellen aus dem Labor

Die Forscherinnen und Forscher aus Knoblichs Labor waren daher auf menschliche Modelle angewiesen und nutzten Hirnorganoide. Dabei handelt es sich um kleine dreidimensionale Gewebestrukturen aus dem Labor. Als Basis für die künstlich erzeugten Hirnzellen dienten menschliche Stammzellen.

Die Vorteile, Organoide in der Forschung einzusetzen, liegen laut dem Molekularbiologen auf der Hand: „An diesen Zellstrukturen lassen sich viele verschiedene Aspekte, unterschiedliche Krankheiten und auch einzelne Entwicklungsstadien des menschlichen Gehirns gut erforschen.“

Neue Methode gewährt genaue Einblicke

Das Forschungsteam um Knoblich entwickelte daher gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der ETH Zürich (Schweiz) eine neue Methode, um die Folgen mehrerer Genmutationen in einem einzigen Experiment aufzuzeigen. Sie wandten die „CHOOSE“-Technik (CRISPR-human organoids-single-cell RNA sequencing) an den künstlichen Hirnzellen aus dem Labor an und konzentrierten sich dabei vor allem auf 36 gemeinhin als problematisch eingestufte Genmutationen.

"Wir zerstören diese Gene alle in einem Organoid, und zwar in jeder Zelle eines davon“, erklärt der Molekularbiologe. Das Organoid durfte daraufhin wachsen, während die Forscherinnen und Forscher untersuchten, welche Gene in jeder einzelnen Zelle aktiv oder inaktiv waren.

Die Folge der Untersuchung waren riesige Mengen an Daten, die das Forschungsteam aus der Schweiz anschließend mithilfe von maschinellen Lernprozessen und komplexen Rechenprogrammen analysierte. „Wir konnten mit der Methode die Auswirkungen jeder einzelnen Mutation auf jede einzelne Zelle jedes Zelltyps verfolgen und den Entwicklungsverlauf abbilden“, so Knoblich.

Die „Achillesferse“ des Gehirns

Entstanden ist dabei ein frei zugänglicher Datensatz, den die Forscherinnen und Forscher aktuell im Fachjournal „Nature“ präsentieren. „Andere Wissenschaftler können im Datensatz nachschauen, was ein bestimmtes Gen im menschlichen Gehirn macht“, erklärt der Molekularbiologe. Unterscheide man dann nicht die verschiedenen ein- und ausgeschalteten Gene, sondern nur Mutanten und Nicht-Mutanten, ermögliche die neue Methode auch die Suche nach gemeinsamen Merkmalen von Autismus.

Anhand des umfangreichen Datensatzes konnte das Team unter anderem auch aufzeigen, dass es bestimmte Prozesse in der Gehirnentwicklung gibt, die besonders empfindlich auf defekte Gene und Genmutationen reagieren – etwa die Entwicklung der oberen Nervenzellschichten des Großhirns. „Das ist so eine Art Achillesferse in unserem Gehirn gegenüber Autismus“, so Knoblich.

Vielversprechender Ansatz

Je mehr man über Autismus und die Folgen der Genmutationen wisse, desto eher könne man auch etwas dagegen unternehmen. Der Datensatz und die neue Methode der länderübergreifenden Forschungskooperation könnten laut Knoblich künftig dazu beitragen, die Prognose- und Therapiemöglichkeiten in der Medizin deutlich zu verbessern – und das nicht nur bei Autismus-Spektrum-Störungen.

Der große Vorteil der „CHOOSE“-Methode: Sie kann potenziell bei allen Krankheiten und Entwicklungsstörungen zum Einsatz kommen, bei denen das Erbgut eine Rolle spielt. Menschliche Organoide und damit auch die Möglichkeit, mit der „CHOOSE“-Methode zu arbeiten, gibt es mittlerweile für die verschiedensten Organe wie Herz, Niere, Leber, Blutgefäße oder den Darm. Entsprechend groß sei auch bereits das Interesse von anderen Forschungsteam an der Technik, so Knoblich.