Euro Münzen liegen auf Euro-Banknoten.
APA/dpa/Daniel Reinhardt
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Schulden

Zwischen Scham und Teilhabe

Mit steigenden Kreditzinsen und Inflation verschulden sich zunehmend mehr Menschen. Schulden sind generell zwiespältig, sagen Fachleute: auf der einen Seite Grundlage von Ökonomie, auf der anderen oft mit Scham behaftet. Schulden machen werde zunehmend als individuelle Entscheidung betrachtet – um zu konsumieren und Teil der Gesellschaft zu sein.

Immer mehr Österreicherinnen und Österreicher rutschen in die Schuldenfalle. Das geht aus dem Schuldenreport 2023 der ASB Schuldnerberatungen hervor. Im Jahr 2022 wurden demnach 13,5 Prozent mehr Privatkonkurse eröffnet als im Jahr zuvor. Auch 2023 setzt sich der Negativtrend fort. Laut Kreditschutzverband von 1870 (KSV) wurden 3,1 Prozent mehr Verfahren als im Vorjahr eröffnet. Die Schuldenhöhe der einzelnen Personen ist dagegen etwas gesunken und beträgt derzeit rund 94.000 Euro pro Schuldner.

Teuerungswelle lässt den Schuldenberg wachsen

Die Ursachen für die hohe Verschuldung von Privatpersonen sind schnell ausfindig zu machen. Die steigenden Lebensmittelpreise, Mieten und Energiekosten sind für viele Menschen nicht zu stemmen, sagt Gudrun Steinmann von der Schuldenberatung Fond Soziales Wien. Zusätzlich haben die hohen Kreditzinsen, etwa bei variabel verzinsten Immobilienkrediten, die Schuldenlast anschwellen lassen. Etwa 200.000 österreichische Haushalte sehen sich in der Gefahr, diese Kreditlast nicht mehr tragen zu können, zeigt eine Umfrage des Vergleichsportals Durchblicker aus dem Frühjahr.

In Österreich wurden zuletzt mehr als 50 Prozent der neuen Immobilienkredite variabel verzinst, der Schnitt in der Eurozone liegt bei 20 Prozent. Gründe für die hohe Zahl an variabel verzinsten Immobilienkrediten in Österreich seien eine schlechte Bankenberatung und möglicherweise auch fehlendes Risikobewusstsein. Und auch verhaltensökonomisch lässt sich dieser Umstand erklären. Verluste werden höher als Gewinne bewertet. Da Kredite von Menschen als Verlust empfunden werden, hoffen sie, diesen durch variabel verzinste Kredite so gering wie möglich zu halten.

Zunehmende Internalisierung der Verschuldung

Nicht nur jene mit Immobilienkrediten, sondern auch immer mehr junge Menschen tappen in die Schuldenfalle, da sie Kredite für Konsumgüter abschließen. “Konsum ist eine Strategie der Teilhabe", sagt Silke Meyer, Professorin für Ethnologie an der Universität Innsbruck. In einer Konsumgesellschaft muss man sich Dinge leisten können, um Teil der Gesellschaft sein zu können. Gleichzeitig sei das “Verschuldet sein" gesellschaftlich immer noch stigmatisiert und mit Scham behaftet.

In den 1970er und 1980er Jahren hätten Befragte vor allem drei Gründe für ihre Verschuldung angegeben: Krankheit, Arbeitslosigkeit und Trennung. Externe Ursachen, die auch heute noch zutreffen. Heute werden Schulden jedoch stärker internalisiert, erzählt die Forscherin. Das Schuldenmachen werde als selbstbestimmte Entscheidung dargestellt und als logische Konsequenz, um ein persönliches Ziel zu erreichen. “Sie geben sich selbst die Schuld an den Schulden und zahlen damit einen relativ hohen Preis als Verzinsung."

Kredit als soziale Beziehung

Schulden haben auch eine gesellschaftliche Funktion. Zu diesem Schluss kam der französische Ethnologe Marcel Mauss, nachdem er Tauschbeziehungen in archaischen Gesellschaften analysiert hat. Auch wenn eine Gabe selbstlos erscheint, hat sie immer auch einen eigennützigen Charakter, da sie eine Gegengabe einfordert. Jede Gabe bedingt eine soziale Handlung und erzeugt dadurch gesellschaftliche Strukturen.

In historischen Kreditgesellschaften wurden Kredite auch als Möglichkeit der Teilhabe an Gemeinschaft gesehen. Wer sich verschuldete, wies damit seine Bonität nach. “Es gibt viele Studien, die zeigen, dass Menschen Gläubiger und Schuldner gleichzeitig waren", sagt Silke Meyer. “Es war gar nicht oberste Priorität, seine Schulden zurückzuzahlen, sondern man ließ das Geld stehen, um sich dieser Teilhabe an der Gemeinschaft zu versichern."

Kultureller Kontext von Schulden

Ob Kredite gesellschaftlich positiv oder negativ gesehen werden, habe viel mit dem kulturellen Kontext zu tun, erklärt die Ethnologin. In den USA beispielsweise sind Schulden viel alltäglicher und weniger stark negativ konnotiert. Das liege auch daran, dass die USA eine Einwanderungsgesellschaft sind: “In einer Einwanderungsgesellschaft beginnt alles mit Kredit." Wer in einem Land neu startet, müsse sich oftmals verschulden, um diesen Neustart finanzieren zu können.

In Europa hingegen wirke die bürgerliche Tugend der Sparsamkeit nach. Während der Adel stark auf Konsum und Verschwendung setzte, um sich sozial zu positionieren, habe der Kaufmann oder die Bürgersfrau die Sparsamkeit als Distinktionsmerkmal für sich definiert.

Schulden als Basis der Ökonomie

In seinem Buch “Schulden. Die ersten 5.000 Jahre" argumentiert der 2020 verstorbene Anthropologe David Graeber, dass Schulden die Wurzeln der Ökonomie sind. Sie sind nicht nur älter als Edelmetalle und geprägte Münzen, sondern auch die Basis von Tauschgeschäften.

Die kapitalistische Ökonomie ist eine Kreditökonomie, sagt Leon Wansleben, der die Forschungsgruppe Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung leitet. Kredite und somit Geld werden von Privatbanken “aus dem Nichts" geschöpft, in der Erwartung, dass dieses Geld in der Zukunft zurückgezahlt wird. “Kredit hat dieses intrinsische Element von Zukunft und Erwartung."

Schulden befeuern Immobilienblase

Mittlerweile übersteigen die privaten Schulden in vielen Ländern bereits die jährliche Wirtschaftsleistung. Eine Entwicklung, die man in beschleunigter Form seit den 1970er Jahren beobachten könnte, erklärt Wansleben. In den westlichen Ökonomien seien die Haupttreiber für dieses Schuldenwachstum Immobilienkredite, die von Privathaushalten aufgenommen wurden.

An und für sich seien Kredite ein naheliegendes Finanzierungsinstrument für den Erwerb von Vermögenstiteln. Problematisch sei jedoch, dass die Möglichkeit schuldenfinanziert Vermögen zu erwerben auch den Wert von Vermögen beeinflusst. „Ist es einfach an Schulden zu kommen, um Häuser zu kaufen, dann steigt der Wert der Häuser“, sagt der Soziologe. Beginnen die Vermögenstitel zu fallen, weil Hauseigentümer und Hauseigentümerinnen ihre Schulden nicht mehr bedienen können, dann platze nicht nur die Immobilien-, sondern auch die Schuldenblase.