Künstlerische Darstellung: menschliches Gehirn mit Computerchips
Prostock-studio – stock.adobe.co
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Bilanz

Was das „Human Brain Project“ gebracht hat

Das menschliche Gehirn als gigantische Computersimulation – das ist die Vision des „Human Brain Project“ gewesen. Ende September kommt das europäische Flaggschiffprojekt nun zu seinem Abschluss: Die Übersetzung in medizinische Therapien ist vielerorts gelungen, Kritik gibt es dennoch.

600 Millionen Euro Kosten, 3.000 wissenschaftliche Fachpublikationen von mehr als 500 Beteiligten. Das ist die quantitative Bilanz des Projekts, das den europäischen Forschungsraum zum Vorreiter in Sachen Hirnforschung machen sollte. Das Flaggschiff kam in den letzten zehn Jahren einige Male ins Schlingern, so wurde etwa das Leitungskomitee rund um den in die Kritik geratenen Hirnforschers Henry Markam durch ein größeres Gremium ersetzt.

Auch inhaltlich gab es die eine oder andere Kurskorrektur. Die Kognitionsforschung wurde zunächst aus der wissenschaftlichen Roadmap gestrichten, um nach lauten Protesten der Fachgemeinde ebenda wieder aufzuscheinen.

Digitale Forschungsplattform

Gleichwohl hat das Projekt einiges an Leistungen vorzuweisen: So wurde etwa die digitale Plattform EBRAINS geschaffen, auf der Daten aus allen Disziplinen gebündelt und Analysetools für weitere Forschungen bereitgestellt werden. Auf dieser Plattform vorhanden ist etwa auch der Human Brain Atlas, eine Art Google-Maps des menschlichen Gehirns, wo man sich per Zoom durch die Landkarte der Hirnareale bewegen kann, bis so feine Details wie Zellen und ihre molekularen Bestandteile sichtbar werden.

Für die deutsche Hirnforscherin Katrin Amunts ist dieser Atlas eine der zentralen Leistungen des Großprojekts, nicht zuletzt deshalb, weil er die weit gefächerten Forschungsansätze zusammenführt. „Wir haben eine gemeinsame Sprache gefunden“, sagt die wissenschaftliche Leiterin des HBP.

Diese Kartierung auf breiter Front hat auch die klinische Forschung befruchtet, so kann man mittlerweile personalisierte Computermodelle von Gehirnen anfertigen, die wiederum in die Behandlung von Epilepsie einfließen – und sie tatsächlich verbessern, wie klinische Vorstudien nahelegen.

Das Bewusstsein wird messbar

Eine recht erstaunliche Anwendung von Computermodellen haben Forschungen in Mailand und Lüttich ergeben. Dort ist es Wissenschaftlern gelungen, das Bewusstsein in seinen Schattierungen messbar zu machen – vom wachen Ich bis hin zur völligen Bewusstlosigkeit. Bei der Anwendung dieser Methode, so erzählt Amunts, habe man bei einigen Patienten „ein gewisses Restbewusstsein festgestellt, obwohl sie zuvor als bewusstlos diagnostiziert wurden“. Das eröffne Möglichkeiten, diese Patienten durch Hirnstimulationen „sozusagen wieder zurückzuholen“.

Noch weiter gediehen ist die computergestützte Therapie bei Lähmungen: Wie eine Studie im Fachblatt „Nature Medicine“ vom letzten Jahr nachweist, können gezielte Stimulationen der Nerven im Lendenbereich die verlorene Bewegungsfähigkeit wieder zu einem gewissen Grad reparieren. Drei solcherart behandelte Patienten konnten innerhalb eines Tages wieder stehen, gehen, schwimmen und radfahren.

Zu viel versprochen?

Diesen Erfolgen zum Trotz mischen sich in die Bilanz des HBP auch kritische Stimmen. Der französische Kognitionsforscher Yves Frégnac hält das initial geäußerte Versprechen, man werde das gesamte Gehirn als Computersimulation darstellen, für zu vollmundig. Was er nun am Computer sehen könne, sagte Frégnac kürzlich in einem Interview, sei „nicht das Gehirn, sondern Stückchen des Gehirns“.

Schnitt durch Hirngewebe in mikroskopischer Darstellung
Forschungszentrum Jülich
Detail des Gehirns – die Synthese der Einzelbefunde vermissen manche Forscherinnen und Forscher

Derlei Beanstandungen wurden bereits zu Beginn des Projekts geäußert – und liegen wohl auch in der Natur der Sache. Denn auch andere wissenschaftliche Großprojekte waren mit durchaus vollmundigen Ankündigungen gestartet. Im Vorfeld des 2003 abgeschlossene Humangenomprojekts hatte es etwa geheißen, man werde durch die Einsichten ins menschliche Erbgut den Krebs endgültig besiegen können. Das war natürlich nicht der Fall, Fakt ist aber auch: Die teilweise spektakulären Fortschritte in der Krebsmedizin wären ohne Genomik nicht machbar gewesen.

Ende September läuft das Human Brain Project nun offiziell aus – ein harter Schnitt steht der europäischen Hirnforschung damit allerdings nicht bevor, sind doch bereits nationale Nachfolgeprojekte auf Schiene, etwa in Deutschland, Italien und Frankreich. Die Plattform EBRAINS wird der Forschungsgemeinschaft erhalten bleiben, sie verfügt als Teil der sogenannten ESFRI-Roadmap mittlerweile über eine Art EU-Gütesiegel und bleibt frei zugänglich. Die finale Begutachtung des Flaggschiffprojekts wird für Anfang 2024 erwartet.