E-Autos in Norwegen hängen an Ladestationen
AFP/JONATHAN NACKSTRAND
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Klimawende

„Soziale Kipppunkte“ sind erwünscht

Unter Kipppunkten versteht man abrupte Veränderungen, die sich selbst verstärken und unumkehrbar sind. Beim Klima sind sie gefürchtet, in der Gesellschaft wären solche Umbrüche hingegen wünschenswert, erklärt ein britischer Forscher, etwa bei der E-Mobilität. Mit geschickten Interventionen ließen sich solche sozialen Kippunkte erreichen.

Acht von zehn Autos, die in Norwegen verkauft werden, sind reine Elektroautos. Der Automobilsektor sei dort bereits vor zehn Jahren „gekippt“, meint Tim Lenton, Professor für Erdsystemwissenschaften an der University of Exeter. Dazu beigetragen hätte unter anderem die norwegische Popgruppe a-ha, die Ende der 1980er Jahre mit einem zum Elektroauto umfunktionierten Fiat Panda für Elektromobilität warb. Wenige Jahre später wurden Elektroautos von der Maut befreit und durften kostenfrei parken. Schon bald stießen die Fahrzeuge nicht mehr nur bei Early Adopters auf Interesse, der Wechsel zum elektrifizierten Individualverkehr wurde unumkehrbar.

Kipppunkte: Plötzlich und unumkehrbar

Das norwegische Beispiele zeige, dass sich ein Wandel ab einem bestimmten Punkt selbst verstärkt und ein System kippen – also von einem Zustand in einen anderen übertreten – kann, sagt Tim Lenton. Ein gutes Bild dafür ist der Stuhl, der, wenn man auf ihm nach hinten wippt, irgendwann den Punkt erreicht, wo er unweigerlich kippt und man sich plötzlich am Boden, in einem anderen Zustand, wiederfindet.

„Es handelt sich um einen raschen, sich selbst beschleunigenden Wandel, der nur sehr schwer rückgängig gemacht werden kann“, sagt Lenton, der sich jahrelang auch mit den klassischen Klima-Kipppunkten beschäftigt hat. Nun steht die Frage, wie das soziale System kippen könnte, im Zentrum seiner Forschung und damit auch die Rahmenbedingungen, die es für Veränderungen braucht.

Rahmenbedingungen für den Wandel

Diese würden sich von Technologie zu Technologie unterscheiden, sagt der Klimaforscher. E-Autos beispielsweise müssten mehr Leistung, eine ausreichende Reichweite und einen hohen Komfort aufweisen, um Diesel- oder Benzin-Pkws zu verdrängen. „Und sie müssen konkurrenzfähig im Preis sein, was sie bereits sind, wenn man die gesamten Betriebskosten betrachtet.“

Den größten Hebel hätten politisch gesetzte Rahmenbedingungen, betont Tim Lenton. Verbietet die Politik beispielsweise den zukünftigen Verkauf von Diesel- und Benzin-Fahrzeugen, zwingt sie die Autoindustrie zu Innovationen und der Preis sinkt. Ähnliche Effekte hätten die Regulierungen der CO2-Flottengrenzwerte für Pkws auf EU-Ebene in den letzten Jahrzehnten gehabt. „Sie haben Rückkoppelungseffekte hervorgerufen und die Innovationskraft verstärkt.“

Die S-Kurve der Innovation

Die Politik sei ein wichtiger Wegbereiter für soziale Kipppunkte, besonders in jenen Bereichen, die politisch reguliert werden, wie etwa der Energiesektor. Zudem kann sie Innovationen gezielt fördern, indem sie Forschungsgelder bereitstellt. „Die gute Nachricht ist, dass alle Technologien, über die wir jetzt sprechen, dank jahrzehntelanger Forschung und Entwicklung bereits ausgereift und sehr wettbewerbsfähig sind.“

Die Etablierung neuer Technologien folge meist einer S-Kurve: Lange Zeit ist ihre Nutzung gering, bis sie schließlich einen Kipppunkt erreichen und ein sprunghaftes Wachstum hinlegen. Wann genau dieser Punkt erreicht wird, sei nicht nur je nach Technologie, sondern auch von Land zu Land unterschiedlich. In einem Land wie Norwegen, das bereits jahrelang mit Elektromobilität experimentierte, lag der Schwellenwert mit ein bis zwei Prozent Marktanteil niedriger als in anderen Ländern, meint Tim Lenton. In China würde er den Schwellenwert im Automobilsektor bei zirka fünf Prozent Marktanteil verorten.

Sechs zentrale Kipppunkte

Bereits 2020 wurden im Rahmen einer Studie jene sozialen Kipppunkt-Interventionen identifiziert, die Feedbackmechanismen auslösen und zu einem umfassenden „Kippen“ des Systems führen könnten. Dazu zählen etwa die Abschaffung von Subventionen für fossile Brennstoffe, der Bau von CO2-neutralen Städten oder der Abzug von Kapital aus Vermögenswerten, die mit fossilen Brennstoffen verbunden sind.

Neben diesen unmittelbaren Verhaltensänderungen, kann auch ein Wandel im Normen- und Wertesystem zum Kippen des Systems führen. Denn soziale Normen beeinflussen das gesellschaftliche Handeln. Davon ist auch Tim Lenton überzeugt. Anzeichen für solch einen „Wertewandel in unseren Köpfen“ würde es bereits geben. So steige beispielsweise das Interesse an vegetarischen und veganen Ernährungsformen.

Klimainnovationen aus dem Globalen Süden

Während die Theorie des Leapfrogging davon ausgeht, dass Innovationen aus dem globalen Norden auch die Dekarbonisierung im globalen Süden vorantreiben wird, interessiert sich Tim Lenton vor allem für Innovationen, die aus dem globalen Süden selbst kommen. „Es gibt eine Reihe von Start-ups, vor allem in Ostafrika, die Elektromotorräder mit austauschbaren Batterien herstellen“, erzählt der Forscher, der diese Woche als Redner zur EZA-Tagung: Klimagerechtigkeit eingeladen war.

Ist die Batterie leer, wird diese bei einer Batterie-Tauschstation gegen eine geladene getauscht. Für die Taxifahrer, die mit diesen Elektromotorrädern unterwegs sind, bedeutet das mehr Gewinn, weil Strom günstiger ist als Benzin oder Diesel. Ähnliches gelte für die elektrischen Rikschas, die zunehmend den Stadtverkehr in Indien prägen.

Als „selbstgemachte elektrische Revolution“, bezeichnet Lenton diese Entwicklungen und als eine Frage globaler Klimagerechtigkeit. Besonders die Länder des globalen Süden seien stark abhängig vom Import fossiler Brennstoffe, was sich negativ auf ihre Handelsbilanz auswirke. Der Umstieg auf Elektromobilität würde den Schuldenstand des Südens zwar nicht tilgen, er könnte aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung sein; ein positiver Kipppunkt sozusagen.