Gedenkstätte für die Opfer des Terroranschlags vom 02. November – unter Kerzen steht #schleichdiduoaschloch
Gerhard Wild / picturedesk.com
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Terror in Wien 2020

„Schleichdiduoaschloch“ prägte Erinnerung

Der sehr wienerische Hashtag „#schleichdiduoaschloch“ hat hierzulande die kollektive Erinnerung an den Terroranschlag in Wien am 2. November 2020 geprägt. Zu diesem Schluss kommen Fachleute nach Analyse der Beiträge auf der Plattform Twitter (jetzt X).

Dabei zeigten sich vor allem positive Narrative der Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer, aber kaum islam- oder fremdenfeindliche Inhalte, berichten sie im Fachjournal „Social Media & Society“.

250.000 Tweets analysiert

Am 2. November vor drei Jahren hatte ein IS-Sympathisant vier Menschen in der Wiener Innenstadt getötet und 23 verletzt, bevor er von der Polizei erschossen wurde. Die Tat löste ein starkes Medienecho aus, vor allem auch auf Twitter.

Rund 250.000 Tweets über den Anschlag in den Tagen und Wochen danach haben der Historiker Martin Tschiggerl vom Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte und die Computerwissenschafterin Marcella Tambuscio vom Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage (beide Akademie der Wissenschaften, ÖAW) analysiert und untersucht, wie sich die kollektive Erinnerung in Österreich und international bildete.

Ihrer quantitativen Netzwerkanalyse zufolge hat sich vor allem der in der Terrornacht entstandene Hashtag „#schleichdiduoaschloch“ bereits in den ersten 48 Stunden im deutschsprachigen Raum als kollektives Narrativ der Erinnerung etabliert, das die Diskussionen in den folgenden Wochen und Monaten, aber auch am ersten Jahrestag des Ereignisses prägte. „Der Hashtag hat seinen Weg aus Twitter herausgefunden und den gesamten Erinnerungsraum zu dem Thema erschlossen – was außergewöhnlich ist“, sagte Tschiggerl. Es habe T-Shirts damit gegeben, Graffitis und Transparente. „#schleichdiduoaschloch hat einen Meme-Charakter angenommen“, schreiben die Fachleute in ihrer Arbeit.

„Erinnerungspolitischer Mythos“

Der Grund dafür sei, dass dieser Satz „so wienerisch ist, so gut passt und deshalb ja so schnell viral gegangen ist – man hätte es gar nicht besser erfinden können“, so Tschiggerl. Angeblich soll jemand dem Attentäter das aus einem offenen Fenster zugerufen haben, aber ein Video, wo tatsächlich jemand diesen Satz sagt, habe niemand gesehen. Es existiere nur ein Video, in dem jemand „Oaschloch“ ruft, so der Historiker, der deshalb von einem „erinnerungspolitischen Mythos“ spricht.

Bubble mit wenig Fremdenfeindlichkeit …

Überrascht hat Tambuscio und Tschiggerl, dass mit dem Anschlag vor allem „positive Narrative der Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer“ verbunden seien, der Hashtag sei zum Symbol des Zusammenhalts von Wien geworden. Dagegen seien „islamophobe oder fremdenfeindliche Inhalte nur in absoluten Einzelfällen zu beobachten und spielen innerhalb der verschiedenen österreichischen Netzwerke aufgrund der geringen Reichweite eine absolut untergeordnete Rolle“, so Tschiggerl. Den Grund dafür sieht er vor allem in der sozialen Zusammensetzung der österreichischen Twitter-Nutzer – eine „eher liberale Bubble mit starker Medien- und wissenschaftlicher Affinität“.

… im Gegensatz zu internationalen Reaktionen

In den internationalen Reaktionen auf Twitter hätten aber stark die islamophoben, fremdenfeindlichen Inhalte überwogen, betonte der Historiker. Dort seien in den sozialen Medien auch Hashtags wie „#viennaattack“, „#prayforvienna“ oder „#0211w“ verwendet und die Tat in Wien in bereits bestehende kollektive Erinnerungen an andere Terroranschläge integriert worden – und damit Teil anderer politischer oder ideologischer Konflikte. Solche Tweets würden hauptsächlich aus Städten kommen, die ähnliche Anschläge erlebt haben, etwa Paris, Nizza oder Barcelona.

Besonders deutlich werde dies am Beispiel Indiens: Mehr noch als in Frankreich oder Spanien hätten indische Nutzer die Tat in Wien ideologisch mit einer starken islamfeindlichen Konnotation und einer vehementen Gegnerschaft zu Pakistan aufgeladen und die Erinnerung an den Anschlag in Mumbai 2008 wieder aktualisiert. „Durch die Kombination neuer Hashtags mit alten, die an vergangene Anschläge erinnern, entstehen Erinnerungsnetzwerke mit starkem Gegenwartsbezug“, schreiben die Fachleute in ihrer Arbeit.

Musk setzte dieser Art Forschung ein Ende

Sie betonen, dass aufgrund der neuen Beschränkung von Twitter heute solche Studien nicht mehr durchgeführt werden können, weil seit der Übernahme von Elon Musk es der Wissenschaft nicht mehr möglich ist, Tweets in großen Mengen herunterzuladen.