Die Stadt als Eventraum: Aufbau für das 32. Film Festival im Juli 2022 am Rathausplatz, 1. Bezirk
Michael Bigus / Wien Museum
Michael Bigus / Wien Museum
Wien Museum

Auch die Gegenwart wird ausgestellt

Das am Mittwoch wieder eröffnete Wien Museum will nicht nur die Geschichte der Stadt ausstellen, sondern auch ihre Gegenwart. Heute lebende Wienerinnen und Wiener kommentieren deshalb historische Themen und aktuelle Entwicklungen. Sie sind auch die sehr diversen Hauptfiguren eines neuen Buchs, das parallel zur Ausstellungseröffnung erschienen ist.

Es lässt „130 Stimmen zur Stadt der Gegenwart“ sprechen, wie es im Untertitel heißt, und vereint Prominente sowie „ganz normale Leute“. In zumindest einer Hinsicht sind sich dabei nahezu alle einig: Wien ist in den vergangenen 30 Jahren Jahren viel internationaler und offener geworden, wie die Herausgeberin und Wien-Museum-Kuratorin Martina Nußbaumer in einem E-Mail-Interview erklärt. Andere Entwicklungen werden hingegen sehr ambivalent beurteilt.

science.ORF.at: Das Wien Museum am Karlsplatz ist 1959 eröffnet worden – damals wäre vermutlich noch niemand auf die Idee gekommen, 130 Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt zu führen …

Buchhinweis

Cover des Buchs „Momentaufnahme Wien“
Wien Museum

Das Buch „Momentaufnahme Wien. 130 Stimmen zur Stadt der Gegenwart“ ist im Falter-Verlag erschienen.

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Martina Nußbaumer: Das stimmt. Bei der Eröffnung der Dauerausstellung im Historischen Museum der Stadt Wien, wie es damals hieß, stand auch das Thema „Gegenwart ausstellen“ noch nicht zur Diskussion. Die alte „Schausammlung“ zielte, wie der Name sagt, darauf ab, einen Überblick über die Sammlung zu geben und die bedeutendsten Objekte aus den Bereichen Kunst, Topografie, Kulturgeschichte und Archäologie zu zeigen. Dass in einer Ausstellung über die Geschichte der Stadt nicht nur Kurator*innen und Wissenschaftler*innen „sprechen“ – auf Objektbeschriftungen und in Raumtexten –, sondern auch Stadtbewohner*innen mit ihren Stadtwahrnehmungen selbst zu Wort kommen, ist ein Zugang zu Stadtgeschichte, der erst etwas später Schule machen sollte.

Spiegelt sich das auch in den Ausstellungen des neuen Wien Museums wider?

Nußbaumer: Ja, Stimmen von historischen und heutigen Bewohner*innen der Stadt sind quer durch die gesamte Dauerausstellung präsent. Immer wieder gibt es in den historischen Kapiteln sogenannte „Stadtfenster“, die Themen aus der Vergangenheit in die Gegenwart bringen und heutige Bewohner*innen zu Wort kommen lassen – etwa zur Debatte um das Gedenken an Karl Lueger und die Frage, was mit dem umstrittenen Denkmal für den antisemitischen und populistischen Bürgermeister passieren soll. Das Kapitel „Geschichten der Gegenwart“, das sich mit der Stadtentwicklung Wiens seit 1989 beschäftigt und den Ausgangspunkt für das Buchprojekt „Momentaufnahme Wien“ bildete, besteht fast zur Gänze aus Interviews mit Stadtbewohner*innen und ihrer Sicht auf die Transformationen der letzten Jahrzehnte. Und es gibt immer wieder Orte in der Ausstellung, an denen man sich selbst einbringen kann.

Demoschild, verwendet bei der #BLM-Demonstration im Juni 2020
Minitta Kandlbauer / Wien Museum
Demoschild, verwendet bei der #Black Lives Matter-Demonstration im Juni 2020

Wie sind Sie zu den aktuellen Interviewpartner*innen gekommen?

Nußbaumer: Wichtig bei ihrer Auswahl war uns, zu jedem Thema möglichst diverse Positionen und Zugänge zu versammeln. Beim Porträt der Seestadt Aspern war es uns zum Beispiel wichtig, dass die Interviewpartner*innen ein möglichst breites Spektrum der dort lebenden und arbeitenden Personen repräsentieren – im Hinblick auf ihren beruflichen Hintergrund, ihr Alter, ihr Geschlecht, ihre Herkunft. Wir haben mit Akteur*innen aus den Bereichen Planung und Stadtentwicklung gesprochen; mit Menschen, die vor Ort sozial oder als Buchhändler engagiert sind; mit Bewohner*innen von Genossenschafts- und Baugruppenprojekten; mit Lehrerinnen, Schülerinnen und Lehrlingen; mit Verkäuferinnen, Kantineuren, Ärztinnen und Gewerbetreibenden – und mit dem Grätzlpolizisten. Wen man sich mit der Seestadt näher beschäftig, wird rasch deutlich, welche Einrichtungen und Personen hier als zentrale soziale Knotenpunkte fungieren. Die waren einerseits selbst wichtige Interviewpartner*innen für uns, haben uns aber auch zu anderen weitervermittelt.

Bleiben diese Erzählungen genauso divers wie die Erzählenden oder gibt es so etwas einen gemeinsamen Nenner oder einen roten Faden – etwa zu einer Wiener oder „Seestädtischen Identität“?

Nußbaumer: Im Fall der Seestadt konnten wir in den Gesprächen fast durchgängig eine sehr hohe Identifikation der dort lebenden und arbeitenden Menschen mit dem neuen Stadtteil beobachten – vor allem unter jenen, die schon in der ersten Bauphase als „Pionier*innen“ dorthin gezogen sind. Was aber nicht heißt, dass es bei aller Wertschätzung nicht auch einiges an Kritik an manchen baulichen Entwicklungen oder noch fehlenden Infrastrukturen gibt.

Ein Hauch von New York: Die Seestadt bei Nacht
Luiza Puiu / Wien Museum
Ein Hauch von New York: die Seestadt bei Nacht

Ansonsten variiert der gemeinsame Nenner je nach Kapitel und Interviewthema und ist jeweils auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Im Kapitel „Europa in Wien“ etwa waren sich alle Interviewpartner*innen einig in ihrer Bewertung, dass Wien seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 und dem Beitritt Österreichs zur EU 1995 um einiges bunter, internationaler, offener und interessanter geworden ist als zuvor und sich von einer grauen „Provinzstadt“ zu einer lebendigen „Metropole“ gemausert hat. Andere Entwicklungen wie etwa der Hochhausboom in Wien seit den 1990er Jahren wurden hingegen sehr ambivalent beurteilt. Die Erzählungen sind also durchaus so divers wie die Erzählenden selbst!

Nicht allen Menschen in Wien gefällt diese Diversität, und es wird ihnen buchstäblich „zu bunt“ – haben ihre Stimmen auch Platz in dem Buch?

Nußbaumer: Es gibt im Buch kaum Stimmen, die sich gegen die Diversität der Stadt aussprechen, aber einige, die sich kritisch zum politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Diversität äußern. Wir haben bei der Auswahl der Interviewpartner*innen – etwa beim Porträt der Seestadt, bei den Wohnporträts im geförderten Wohnbau oder bei den Arbeitsplatzporträts – darauf Wert gelegt, ein möglichst breites Herkunftsspektrum der Wiener*innen zu repräsentieren: 2023 waren 44 Prozent in Wien, 16 Prozent in den Bundesländern und 39 Prozent im Ausland geboren (Anm. der Rest ist ein Rundungsprozent).

Aber wir haben niemanden vorab gefragt, ob er oder sie Zuwanderung im eigenen Grätzel oder im eigenen Wohnhaus ablehnt oder befürwortet und danach „gecastet“! Ungefragt kam in ganz vielen Fällen zur Sprache, dass die Interviewten die Vielfalt in ihrer Nachbarschaft durchaus als Ressource sehen und eher die Herausforderungen im Zuge der Neoliberalisierung der Ökonomie, des Arbeitsmarkts und des Wohnungsmarkts kritisch thematisieren als das Thema Diversität – und dass etwa viele Wohnkonflikte oder Konflikte im öffentlichen Raum eher entlang der Konfliktlinien laut/leise oder jung/alt verlaufen als entlang von Herkunft.

Hochhaus-Ensemble TRIIIPLE (links), Schnirchgasse, 3. Bezirk
Wolfgang Thaler / Wien Museum
Hochhaus-Ensemble TRIIIPLE (links), Schnirchgasse, 3. Bezirk

Sie bringen in dem Buch 130 Stimmen zum Ausdruck – gibt es darunter etwas, dass Sie als langjährige Wien Museum-Kuratorin nicht gewusst haben bzw. überrascht hat?

Nußbaumer: Es gab in den Gesprächen immer wieder Bezüge auf neue Forschungen, die für mich sehr spannend waren. Der Verkehrsplaner Ulrich Leth erzählt im Buch etwa von einer Studie, wonach alle im 7. Bezirk zugelassenen PKWs in den Parkgaragen des Bezirks Platz hätten – das heißt, man könnte hier alle Parkplätze im öffentlichen Raum wegräumen und alle Autos hätten trotzdem Platz, ein faszinierendes Gedankenspiel. Aber uns hat in den Interviews vor allem auch die Frage interessiert, wie Stadtbewohner*innen mit neuen Herausforderungen im städtischen Alltag umgehen und welche individuellen und kollektiven Wege der Konflikt- und Problemlösung versucht werden. Von diesen zum Teil sehr persönlichen Zugängen habe ich eine Menge gelernt!

„Momentaufnahme“ klingt auch, wie wenn das Buch laufend erweitert wird oder werden könnte – was ist da geplant?

Nußbaumer: „Momentaufnahme Wien“ ist ein bewusst temporär angelegtes Porträt der Stadt der Gegenwart, in dem gegenwärtige Stadtbewohner*innen und Expert*innen erzählen, wie sich aus ihrer Sicht die Stadt seit 1989 verändert hat und welche Herausforderungen mit diesen Veränderungen einhergehen. Andere Personen sehen zu einem anderen Zeitpunkt diese Entwicklungen vielleicht wieder ganz anders. Alle Interviews und Bilder sind genau datiert, somit wird klar, dass wir hier beim Lesen auch schon wieder gleichsam historische Positionen vorfinden. Allein während des eineinhalbjährigen Prozesses der Entstehung dieses Buches hat sich schon wieder so viel getan, was den Blick auf manche Positionen verändert!

Für die Dauerausstellung planen wir, immer wieder neue „Momentaufnahmen“ von Wien anzufertigen und das Kapitel „Geschichten der Gegenwart“ immer wieder durch neue Erzählungen zu ergänzen. Ob diese auch in Form eines neuen Buchs Niederschlag finden werden, ist noch offen. Die großen Themen, die im aktuellen Buch angesprochen werden – Wohnen, Stadtverdichtung, öffentlicher Raum, Klimawandel, Verkehr, Strukturwandel, Arbeitswelt, Zusammenleben – werden uns aber sicher auch noch in den nächsten Jahren in ähnlicher Form beschäftigen.